Gendermedizin nimmt Fahrt auf
Kongress benennt Herausforderungen einer geschlechtsspezifischen Versorgung
Eine Differenzierung nach Geschlecht könnte Ärzten die Arbeit erleichtern: Es geht um genauere Medikamentendosierungen, weniger Nebenwirkungen und zutreffende Diagnosen. Auf dem 2. Bundeskongress Gender-Gesundheit wurden in der vergangenen Woche in Berlin die neuen Entwicklungen vorgestellt.
Dabei ist dieses Herangehen an Krankheiten nicht etwa »extra für Frauen«. Der Ansatz hilft auch Männern. Für die Medizinsoziologin Anne Möller-Leimkühler aus München ist die Depression bei Männern ein Paradebeispiel dafür, dass diese häufig unterdiagnostiziert und -versorgt sind. Deren deutlich höherer Anteil an den Selbstmorden regte in den USA und Schweden die Forschung an. Die Medizin geht davon aus, dass den meisten Suiziden eine Depression vorausgeht. Diese psychische Erkrankung wird zwar generell nur in einem Drittel der Fälle behandelt, Männer werden aber noch weniger versorgt als Frauen, und wenn, dann erst spät, stationär und teuer. Bislang gilt noch, dass Frauen ein doppelt so hohes Risiko für eine Depression haben wie Männer. Angesichts des männlichen Anteils an den Suiziden, der mit dem Alter exponentiell wächst, spricht Möller-Leimkühler von einem »großen Gender-Paradoxon«. Wie stark sich dabei gesellschaftliche Normen auswirken, stellten Forscher fest, die gleiche Depressionsraten bei beiden Geschlechtern bei den Amish, einer Glaubensgemeinschaft in den USA, und bei streng orthodoxen Juden fanden. In beiden Gruppen sind Alkoholmissbrauch und Selbstmord stark tabuisiert.
Weil Männer auf Stress eher aggressiv reagieren und weniger in der Lage sind, sich Hilfe zu holen, wird bei ihnen die Diagnose Depression häufig nicht gestellt. In der Folge kann diese nicht nur chronisch, sondern auch fehlversorgt werden, weil nach körperlichen Ursachen gesucht wird, und außerdem zu hohen Kosten durch Präsentismus: Der psychisch Erkrankte meint, um jeden Preis am Arbeitsplatz aushalten zu müssen. Noch besteht aber Forschungsbedarf in der Frage, ob es sich hier um einen neuen Subtyp einer Depression handelt oder ein unspezifisches männliches Stressverarbeitungsmuster.
Harte Fakten gibt es hingegen immer mehr aus dem Bereich der Arzneimitteltherapie. »Dabei wird deutlicher, dass Frauen nicht einfach zehn Kilogramm leichtere Männer sind«, so Petra Thürmann vom Helios-Klinikum Wuppertal. Frauen haben nicht nur im Verhältnis weniger Muskelmasse, mehr Fett und weniger Wasser im Körper, sondern sie »verstoffwechseln« in hohem Maße eigene Hormone. Spezifische Enzyme tragen dazu bei, dass bei Frauen viele Medikamente kürzer wirken und schneller abgebaut werden. In der Folge erhalten sie Arzneimittel häufig überdosiert und leiden unter stärkeren Nebenwirkungen. Das kann ein erhöhtes Risiko für Knochenbrüche nach der Blutzuckersenkung mit Glitazonen sein oder eine bestimmte Form von Herzrhythmusstörungen nach der Einnahme von Antibiotika oder Entzündungshemmern.
Viele dieser Komplikationen haben ihre Ursache in systematischen Fehlern in Studien und bei der Zulassung von Medikamenten. So wurde ein Präparat an 18 mal mehr Männern als Frauen getestet, aber für beide Geschlechter zugelassen. Auch gegen die gesellschaftlich verinnerlichten Stereotype, die sich in Hierarchien in den Kliniken und Laboren widerspiegeln, liefert die Gendermedizin zunehmend Argumente.
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