Wider national aufgeblähte Rhetorik
Uwe-Karsten Heye begab sich auf die Spuren der Familie Benjamin - deutsch und europäisch
Es ist ein Geschichtsbuch. Geschrieben hat es Uwe-Karsten Heye, ehemaliger Pressereferent und Redenschreiber von Willy Brandt sowie Ex-Chefredakteur der SPD-Parteizeitung »Vorwärts«. Sein Buch zeigt viele deutsche Welten, ist hervorragend geschrieben und räumt mit vor allem im Westen bis heute gepflegten Mythen auf. Ein politisch spannendes Buch über die Geschwister Walter, Georg und Dora Benjamin sowie über die Eltern Emil und Pauline.
Walter Benjamin wurde 1892 geboren, seine Schwägerin Hilde Benjamin starb 1989. Das Geburtsjahr des Philosophen und der Todestag der umstrittenen DDR-Justizministerin markieren den Beginn und das Ende eines Jahrhunderts deutscher Geschichte, das von zwei Weltkriegen geprägt war. »Für beide Kriege gibt es eine unübersehbare Verantwortung der Deutschen, die sich in den Schicksalen der Geschwister und in ihren Prägungen spiegelt«, so Heye.
Zwei der Benjamin-Familie überleben das »Dritte Reich«: Dora und ihre Freundin Hilde Benjamin. Die jüngere Schwester von Walter und Georg war vor den Nazis ins französische Exil geflüchtet und starb 1946 in der Schweiz. Hildes Ehemann, der Arzt und Kommunist Georg Benjamin, wurde am 26. August 1942 im KZ Mauthausen ermordet. Auf den Tag genau einen Monat später beging Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Grenzort Portbou Suizid. Er hinterließ eine kleine Notiz: »Dem Augenblick der übermächtigen Gefahr, dem kein Aufschub - also keine Hoffnung abzuringen ist - trete ich mit einer existenziellen Entscheidung entgegen.«
Kaum war mit dem Sieg über Nazideutschland der Krieg beendet, begann ein neuer, kalter. »Im Westen Deutschlands sorgten die in ihren Ämtern verbliebenen Funktionseliten der Nazis für den gleichen antibolschewistischen Gestus, der zuvor zwölf Jahre lang eingeübt worden war«, urteilt Heye. Der Nationalsozialismus und eigene Mitschuld wurden in der BRD verdrängt, die DDR wurde als »Unrechtsstaat« dämonisiert und jeder dort verurteilte Nazi zum Opfer deklariert.
Die stärksten Passagen in Heyes Buch sind jene, die sich mit den 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik und in der DDR befassen. Sie veranschaulichen, wie viele Nazi-Eliten im Westen des Landes überlebten, Karriere machten und eine Stimmung erzeugten, die es so schwer machte, den Zivilisationsbruch von 1933 aufzuarbeiten. Im Osten Deutschlands sahen, so Heye, sowjetische und deutsche Behörden ihre dringlichste Aufgabe darin, möglichst rasch Neulehrer, Volksrichter und Verwaltungsfunktionäre auszubilden, die die vakanten Stellen der geflohenen, entlassenen und verurteilten Nazis einnehmen sollten. Hilde Benjamin notierte: »Nun begann das, wofür wir die vergangenen zwölf Jahre gekämpft, worauf wir uns die letzten Monate vorbereitet hatten.«
Erst 1960 konnte nach einem Hinweis des hessischen Generalstaatsanwaltes Fritz Bauer der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Argentinien von einem israelischen Kommando aufgespürt und entführt werden. Der Staat Israel leitete »ein Strafverfahren gegen den Mann ein, der die Transporte für die Menschen mit dem gelben Judenstern organisierte, ohne die es keine ›Endlösung der Judenfrage‹ hätte geben können«, schreibt Heye und fährt fort: »Ohne Fritz Bauer hingegen hätte es diesen Prozess nicht gegeben.« Ebenfalls im Jahr 1960, ein Jahr vor dem Bau der Mauer, wird Georg (Grischa) Benjamin, der Sohn von Michael und Enkel von Hilde Benjamin, geboren: »Georgs Vater wird 40 Jahre später, als es die DDR schon längst nicht mehr gab, mit seiner Sicht auf das Monstrum aus Beton und Stacheldraht eine öffentliche Kontroverse auslösen. Dabei hatte es durchaus Plausibilität, dass es eine durch die ›Umstände erzwungene‹ Maßnahme gewesen sei.« Auch hier zeigt sich als eine Stärke des Autors Einfühlungsvermögen in die Zeit und deren Akteure. Der 1932 geborene Michael Benjamin, der wie seine Mutter Jura studiert hatte, war Mitbegründer der Kommunistischen Plattform der PDS und starb mit noch nicht einmal 68 Jahren im Jahr 2000.
»Walter Benjamin hätte vermutlich Distanz zu beiden deutschen Staaten gehalten«, vermutet Heye. Er ist skeptisch hinsichtlich der von Hilde Benjamin geäußerten Überzeugung, ihr Schwager hätte den Weg in die SED gefunden. Gewiss ist, dass alle Benjamins Schwierigkeiten mit dem sich im wiedervereinigten Deutschland neu ausbreitenden Rechtsradikalismus und dessen Unterschätzung und Verharmlosung gehabt hätten. Zum Schluss des Buches setzt sich Heye mit dem »Phänomen« NSU auseinander. Er endet mit der Bemerkung, die deutsche Familie Benjamin stehe »gegen das Verdrängen und eine Rhetorik, die sich erneut national aufbläht«.
Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins. Eine deutsche Familie. Aufbau Verlag, Berlin 2014. 361 S., geb., 22,99 €.
Der Autor stellt sein Buch heute, 18 Uhr, in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Hiroshimastr. 17, 10785 Berlin, vor.
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