Ein Spagat zum 50. Geburtstag

Halle-Neustadt, einzige völlig neu erbaute Großstadt Nachkriegsdeutschlands, feiert Jubiläum

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 3 Min.
Einst war Halle-Neustadt eine in Beton gegossene Gesellschaftsutopie. Im Sommer wird die Großsiedlung in Sachsen-Anhalt 50 Jahre alt. Teils ist sie heute ein attraktives Wohnquartier - und teils abgekoppelt.

Für die vielen Bäume in den Innenhöfen von Halle-Neustadt gab es in dem halben Jahrhundert, seit sie gepflanzt wurden, nur eine Richtung: aufwärts. Grün und ausladend stehen sie zwischen Fünf- und Elfgeschossern, Schulen oder ehemaligen Kitas, die seither soziale Treffpunkte geworden sind. Halle-Neustadt hat viel zu bieten, sagt Kerstin Hoffmann, Planerin in Halles Rathaus: »Es gibt viel Grün, und es gibt viel Freiraum.«

Freiraum gab es auch vor 50 Jahren. Im Juli 1964 wurde der Grundstein für Halle-West gelegt, das 1967 eigenständig wurde und als einzige völlig neu erbaute Großstadt im Nachkriegsdeutschland gilt. Sie wurde nach modernsten Ideen errichtet und galt seinerzeit als in Beton gegossene Gesellschaftsutopie. Vor allem Chemiearbeiter bezogen die komfortablen Wohnungen. Über 90 000 Menschen wohnten hier im Jahr 1989.

Sprung über die Saale
Bereits um 1900 gab es in Halle an der Saale Überlegungen, mit Blick auf die stark anwachsende Bevölkerung nach neuen Flächen für den Wohnungsbau zu suchen. Dabei war die Nord-Süd-Ausdehnung der Stadt - eingezwängt zwischen Saale im Westen sowie Bahngleisen und Industriegebieten im Osten - eines der Hauptprobleme. Aus diesem Grund fiel der Blick auf Gebiete, die jenseits der Saale im Westen lagen. Dort wurde später Halle-Neustadt platziert - am Rande der Saaleaue zwischen den kleinen Orten Zscherben, Nietleben und Passendorf, wobei letzteres größtenteils abgerissen wurde. Reste des dörflichen Charakters jener Siedlung sind jedoch entlang der Kammstraße erhalten geblieben. nd

 

Bis dahin wurde in Halle-Neustadt ein Vierteljahrhundert lang aufgebaut; ein Vierteljahrhundert wird seitdem umstrukturiert. Schließlich begann die Siedlung, die seit 1990 ein Stadtteil von Halle ist, mit dem Ende der DDR unter den Problemen vieler vergleichbarer Großsiedlungen zu leiden. Die Zahl der Einwohner halbierte sich und liegt heute bei 44 000. In vielen Quartieren sind sogar zwei Drittel der Bewohner weggezogen. 4500 Wohnungen, ein Siebtel des Bestandes, wurden abgerissen.

Trotz solcher Zahlen herrscht zum 50. Geburtstag, den man in Halle-Neustadt in den nächsten Wochen und Monaten mit vielen Veranstaltungen, Ausstellungen und Tagungen begehen will, alles andere als triste Stimmung. Viele Gebäude sind saniert; insgesamt 37,5 Millionen Euro Fördergelder wurden dafür laut Stadtplanerin Hoffmann ausgegeben. Rund um grüne Innenhöfe entstehen reizvolle Gebäude mit Laubengängen. Das Zentrum entlang der Magistrale ist belebt, in die Altstadt fahren Straßenbahnen. Neben »Ureinwohnern«, die dem Viertel seit Jahrzehnten die Treue halten, ziehen Studenten und junge Familien in die Neustadt.

Allerdings gibt es auch Schattenseiten. Eine Studie des Leibnitz-Instituts für Regionalentwicklung (IRS) aus Erkner belegt dramatische Probleme im Viertel »Südpark«. Dort hat eine »Heuschrecke« Wohnungsbestände insolventer Genossenschaften aufgekauft und verdient niedrige, aber stabile Renditen mit der Vermietung an sozial schwache Haushalte, deren Miete das Sozialamt zahlt. Die Arbeitslosigkeit liegt in jenem Viertel mit 22,4 Prozent dreimal so hoch wie im Hallenser Durchschnitt; 70,5 Prozent der Kinder leben in Hartz IV-Familien. Die Zahlen sind höher als in Berliner Problembezirken wie Neukölln. »In gewisser Weise«, erklärt Daniel Förste vom IRS, »findet dort eine Abkopplung statt.«

Die will die Politik verhindern - für einzelne Teile wie für Halle-Neustadt insgesamt. Die Gefahr besteht durchaus noch immer. So warnt der LINKE-Kulturpolitiker Erwin Bartsch, Neustadt sei zu einer »kulturellen Wüstung« geworden: Weder gebe es Häuser für Theater und Konzerte, noch finde man »Kommunikationsräume oder eine Gaststättenkultur«, sagte er gestern bei einer öffentlichen Fraktionssitzung der Landtags-LINKEN. Zuletzt gab es allenfalls temporäre Aktionen, etwa im viel beachteten Theaterprojekt »Hotel Neustadt«.

Fachleute mahnen, Neustadt könne nur dann dauerhaft als Teil der gesamten Stadt etabliert werden, wenn es auch Funktionen für diese übernehme. Dafür gibt es Ideen - teils spektakuläre. Der LINKE-Politiker und Landtagsabgeordnete Uwe-Volkmar Köck zitiert den Vorschlag, einen Teil des Kunstmuseums Moritzburg nach Neustadt zu verlagern: »Das würde Besucher anziehen.« Ob die Idee umgesetzt wird, ist offen; eine Zukunft aber hat der Stadtteil nach Köcks Meinung auf jeden Fall: »In 25 Jahren feiert Halle-Neustadt seinen 75. Geburtstag. Das ist unstreitig.«

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