Kleider machen Mörder
In Leer erinnert eine Tafel an die Verbrechen eines falschen Hauptmanns und seiner Helfer
Wenige Tage vor der deutschen Kapitulation und dem Ende des Zweiten Weltkriegs kommt es im April 1945 an der deutsch-niederländischen Grenze zu grauenhaften Verbrechen. Ein versprengter Wehrmachtssoldat macht sich mit einer gefundenen Offiziersuniform selbst zum Hauptmann und verschafft sich so Achtung und Gehorsam. Bei Papenburg in Niedersachsen organisiert er in einem berüchtigten Strafgefangenenlager eine Massenhinrichtung von mindestens 150 Häftlingen. Im ostfriesischen Leer lässt er am 25. April 1945 fünf niederländische Gefangene erschießen. Niemand hält ihn auf.
Die Erinnerung an die Verbrechen und die Opfer des falschen Hauptmanns Willi Herold ist auch noch heute in Leer lebendig. »Das ist lange ein Trauma für die Angehörigen der betroffenen Familien geblieben«, sagt Stadtarchivarin Menna Hensmann. Sie organisierte zum Jahrestag am vergangenen Freitag eine stille Feier mit Angehörigen und Bürgermeistern aus den Niederlanden. Dabei wurde eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Ermordeten enthüllt.
Die Stadtarchivarin und andere haben über die Jahre grausige Details der Verbrechen gesammelt. Mit dem tragikomischen Hochstapler und »Hauptmann von Köpenick« hat das Drama um den falschen Hauptmann, der aus Chemnitz in Sachsen stammte, nichts zu tun - bis auf die Uniform und das obrigkeitshörige Umfeld. Der erst 19-jährige Herold hatte 1945 in den Wirren der letzten Kriegswochen seine Truppeneinheit verloren. Mit der gefundenen Uniform begann der Gefreite in Niedersachsen seine kurze, blutige Karriere als angeblicher Luftwaffenoffizier.
Mit schneidiger Stimme und resolutem Auftreten sammelte Herold weitere versprengte Soldaten um sich. Im Straflager Aschendorfer Moor II bot er sich an, Häftlinge zu erschießen. Mindestens 150 Menschen fielen ihm dort zum Opfer. Weitere folgten, als Herold mit seinem Tross weiterzog. Als angebliche Spione mussten zuletzt fünf Niederländer aus dem Gefängnis in Leer sterben.
Irgendwann flog die Täuschung auf, doch ein deutsches Militärgericht ließ den Kriegsverbrecher Herold laufen. Durch einen Zufall ging er schließlich der britischen Militärregierung ins Netz. Nach einem Prozess wurde er zum Tode verurteilt und 1946 in Wolfenbüttel mit mehreren Beteiligten hingerichtet.
»Alle Zeugen waren von ihm beeindruckt: Er sah gut aus und machte keinen halbkriminellen Eindruck«, beschreibt der Filmemacher Paul Meyer aus Freiburg seine Recherchen. Für seinen 1998 mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Film »Der Hauptmann von Muffrika« befragte er Häftlinge, Wachleute und Zeitzeugen sowie niederländische und britische Stellen und durchforstete Polizei- und Gerichtsakten.
»Herold hatte viele Helfer, die seine Taten zuließen. Später wurde er dann als ›fürchterlicher Kerl‹ dargestellt, der zwar nicht aus der Gegend kam, aber hier verrückt spielte«, hörte Meyer bei seinen Recherchen. »Diese Sicht sollte wohl helfen, von den unmenschlichen Verhältnissen in den seit 1933 betriebenen Emslandlagern abzulenken.«
Auch Bernhard Daenekes (87) aus Leer hat die Geschichte bis heute nicht vergessen. Der pensionierte Kriminalhauptkommissar hat vergeblich versucht, einen Komplizen von Herold aufzuspüren. »Der ist vielleicht mit einem falschen Namen aufgetreten. Wir haben ihn nie gekriegt.« dpa/nd
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