Mindestens 46 Tote in Odessa
Viele sterben bei Angriff von Anhängern der Kiewer Übergangsregierung auf Gewerkschaftshaus / Zuvor Straßenschlachten mit Autonomie-Befürwortern / Mitglied des Rechten Sektors: »Ziel ist Säuberung«
Update 12.40 Uhr: Moskau und Kiew haben sich gegenseitig für die schweren Auseinandersetzungen in Odessa verantwortlich gemacht. Dabei hatte es mindestens 46 Tote gegeben, die meisten davon prorussische Aktivisten, die im Gewerkschaftshaus der Stadt starben, in das sie sich nach einem Angriff von Unterstützern der Kiewer Regierung und nationalistischer Fußballfans geflüchtet hatten. Auch Angehörige des »Rechten Sektors« sollen beteiligt gewesen sein. Zuvor hatte es Attacken von Befürwortern von mehr Unabhängigkeit auf Unterstützer der Kiewer Regierung gegeben. »Die Hände der Führung in Kiew stecken bis zum Ellbogen in Blut«, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Samstag der Agentur Interfax zufolge in Moskau. Er forderte die ukrainische Regierung auf, die für 25. Mai geplante Präsidentenwahl abzusagen. Eine Abstimmung vor dem Hintergrund von Gewalt sei »Unsinn«. Russland erhalte »tausende Hilferufe« aus dem krisengeschüttelten Osten des Nachbarlandes. »Es ist der Schrei der Verzweiflung und die Bitte um Hilfe«, sagte er.
Dagegen machte die ukrainische Regierung für die Auseinandersetzungen in Odessa die frühere Führung des Landes verantwortlich. Von ihrem Exil in Russland aus hätten Mitarbeiter des entmachteten Präsidenten Viktor Janukowitsch die Zusammenstöße organisiert, sagte Jekaterina Kossarewa vom Geheimdienst SBU am Samstag in Kiew. »Die Provokationen, die zu den Unruhen führten, wurden von ehemaligen Beamten der Regierung Janukowitsch finanziert«, sagte sie. Beweise zeigte der SBU nicht. Auch die ukrainische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko machte Russland für die Krise im Osten der Ex-Sowjetrepublik verantwortlich. Die Zusammenstöße in der Schwarzmeerstadt seien vom russischen Geheimdienst organisiert worden. »Russland versucht mit allen Mitteln, die Ukraine zu destabilisieren und die Präsidentenwahl am 25. Mai zu verhindern«, sagte Timoschenko, die bei der Abstimmung kandidiert.
Moskau und Washington verurteilen Gewalt in Odessa
Berlin. Die Behörden in der ukrainischen Hafenstadt Odessa haben die Zahl der Opfer des Brandes im Gewerkschaftshaus und der vorausgegangenen Auseinandersetzungen auf der Straße mit 37 beziffert. Am Freitag war es in der Stadt zunächst zu Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Anhängern der Übergangsregierung in Kiew gekommen. Auch Fußballfans sollen an den Auseinandersetzungen beteiligt gewesen sein. Am Abend starben mindestens 31 Menschen bei einem schweren Feuer im zentralen Gewerkschaftsgebäude. Das Feuer sei auf »kriminelle Brandstiftung« zurückzuführen, hieß es zunächst in Berichten, ohne dass klar wurde, wer für die Tragödie verantwortlich ist. Später wurde gemeldet, dass sich in dem Gebäude Aktivisten befunden hätten, die für ein föderales System in der Ukraine, mehr Autonomie für die überwiegend russischsprachigen Gebiete oder auch die Eingliederung in die Russische Föderation eintreten. Anhänger der Übergangsregierung in Kiew hatten das Gebäude belagert.
Der staatliche Moskauer Auslandssender Russia Today meldete, auch nationalistische Fußballfans hätten zunächst vor dem Gebäude Aktivisten und deren Protestzelte attackiert, die für mehr Unabhängigkeit eintreten, und sich in das Gebäude geflüchtet hätten. Auf Videoaufnahmen war zu sehen, wie Menschen Brandsätze in das Haus schleudern. Laut russischen Berichten soll auch der Rechte Sektor an dem Angriff beteiligt gewesen zu sein. Im britischen »Guardian« wird ein mutmaßliches Mitglied der Rechtsradikalen mit den Worten zitiert, Ziel sei es, Odessa von den prorussischen Kräften »zu säubern« bzw. »freizumachen«, diese seien alle »bezahlte russische Seperatisten«. Ein anderes Mitglied des Rechten Sektors schilderte gegenüber dem Reporter der Zeitung, sie zunächst der Platz und dann der Haupteingang gestürmt worden sei. Prorussische Aktivisten seien ebenfalls bewaffnet gewesen. Beim Versuch, das Gebäude zu verteidigen hätten diese unter anderem Molotowcocktails vom Dach geworfen. Auch von Schüssen wurde berichtet. In einem von Anhängern der Maidan-Bewegung ins Netz gestellten Video sind Opfer des Brandes im Gewerkschaftshaus zu sehen, die in einer Menge am Boden kriechen müssen und mit Füßen getreten werden.
Bei Spiegel online heißt es, »verstörend ist die Sprache, die Behörden und Medien angesichts der Katastrophe wählen. Während in Odessa Menschen verbrannten, meldeten ukrainische Medien geradezu triumphierend, 'Patrioten' hätten die 'Separatisten zurückgeschlagen'. Man sei dabei, sie erfolgreich 'auszuräuchern'.« Den Gouverneur des Gebiets, Wladimir Nemirowskij, zitiert das Onlineportal mit den Worten, um »bewaffnete Terroristen zu neutralisieren« sei das Vorgehen der Brandstifter »legal« gewesen.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier reagierte »bestürzt und schockiert über den qualvollen Tod so vieler Menschen in der Brandkatastrophe«. Der SPD-Politiker äußerte Anteilnahme und tief empfundenes Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen. Er verurteilte die Ausbrüche von Gewalt, »wo Demonstranten ungebremst aufeinander losgehen und dabei auch vor Mord und Totschlag nicht mehr zurückschrecken«, auf das schärfste. Die Tragödie von Odessa müsse »ein Weckruf sein«, so Steinmeier. »Gewalt löst nur Gegengewalt aus. Wenn dem jetzt nicht Einhalt geboten wird, kann der Moment kommen, an dem sich alles nicht mehr stoppen lässt.« Er warnte die politisch Verantwortlichen aller Seiten davor, »noch mehr Öl ins Feuer gegossen werden. Das fängt schon bei der Wahl der Worte an«, so Steinmeier. »Martialische Kriegsrhetorik macht alles nur noch schlimmer.«
Russland machte die Übergangsregierung in Kiew sowie ukrainische Nationalisten für die Eskalation verantwortlich. Das Außenministerium in Moskau forderte von den Behörden des Nachbarlandes »unverzügliche Auskunft« darüber, ob unter den Opfern auch Russen seien. Moskau zeigte sich »empört« über die Vorfälle in Odessa und warf der ukrainischen Umsturzregierung »Verantwortungslosigkeit« vor. »Kiew und seine westlichen Unterstützer müssen der Anarchie ein Ende setzen und vor dem ukrainischen Volk zu ihrer Verantwortung stehen«, heißt es in einer Erklärung des russischen Außenministeriums. Moskau sehe die »tragischen Ereignisse« als weiteres Zeichen für die »kriminelle Verantwortungslosigkeit« der Behörden in Kiew. Diese begünstigten Ultranationalisten wie den Rechten Sektor (Pravy Sektor), die eine »Terrorkampagne« gegen Anhänger eines föderalen Systems und wirklicher Verfassungsänderungen in der Ukraine führten. Der Rechte Sektor, ein Zusammenschluss ultrarechter und faschistischer Kräfte, war maßgeblich am Sturz des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch Ende Februar beteiligt.
Die US-Regierung hat die Gewalt in Odessa am Freitag an »unannehmbar« verurteilt. In einer Erklärung des US-Außenministeriums wurden zugleich die Ukraine und Russland aufgefordert, gemeinsam »Ruhe, Gesetz und Ordnung« wiederherzustellen. »Die Gewalt und das Chaos, das zu so vielen sinnlosen Toten und Verletzten geführt haben, sind inakzeptabel«, erklärte die stellvertretende Außenamtssprecherin Marie Harf. Rund 130 Menschen wurden am Freitag in Odessa festgenommen. Die Behörden verhängten eine dreitägige Trauer. Die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko reiste nach Odessa, um sich ein Bild von der Lage zu machen. In der Millionenstadt war es bislang vergleichsweise ruhig gewesen. nd/mit Agenturen
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