Knapp an der Katastrophe vorbei
Nun ist es amtlich: Im Kernforschungsreaktor Jülich gab es gravierende Mängel
Ein Vierteljahrhundert nach der Stilllegung ist die Aufarbeitung der Skandal-Geschichte des Jülicher Kernforschungsreaktors AVR ein gutes Stück voran gekommen. Gravierende Fehler und Versäumnisse bescheinigt eine externe Expertenkommission den einstigen Betreibern - im Auftrag derselben. »Die Experten haben uns gezeigt, dass Regeln guter wissenschaftlicher Praxis während des AVR-Betriebs nicht immer eingehalten worden sind«, bedauert das Forschungszentrum Jülich bei Aachen, das einst den Reaktor mitbetrieb.
1966 ging der AVR als Deutschlands erster Hochtemperaturreaktor (HTR) ans Netz, blieb dort bis 1988. Trotz diverser Probleme. Sicherheitsmechanismen wurden manipuliert, Störfälle verharmlost, der Reaktorkern wurde überhitzt betrieben - bei »nicht nachvollziehbar« seltenen Temperaturmessungen, wie der Expertenbericht nun moniert.
1978 drangen 27 000 Liter Wasser in das Innere des Reaktors. Die Reaktion der Crew: Sie machte sechs Tage weiter wie immer, fuhr dann den Reaktor herunter, wobei es Probleme wegen eines manipulierten Schalters gab. Dann meldete sie den Vorfall der Atomaufsicht, und zwar in der niedrigsten Meldekategorie »N«. Sie maß dem Vorfall also »geringe sicherheitstechnische Bedeutung« bei.
Die Bevölkerung sei nie einer radiologischen Gefahr ausgesetzt gewesen, liest das Forschungszentrum Jülich aus dem Bericht. Oliver Krischer interpretiert die Expertenaussagen anders. Über Jahre hinweg habe »eine gewaltige Gefahr« bestanden, so der Vizevorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion. »Sogar ein Super-GAU mit Tschernobyl-Folgen war etwa bei dem sogenannten Wassereinbruchstörfall im Jahr 1978 nicht ausgeschlossen.«
Und auch heute sei nicht alles gut, meint der Politiker. So unterlaufe das Forschungszentrum den Atomausstieg - mit Hilfe öffentlicher Fördergelder. Geforscht werde in Jülich für ein AKW im chinesischen Shidao, wo mit der Kugelhaufen-Hochtemperaturreaktortechnik genau jene angeblich »inhärent sichere« Technik zum Einsatz kommen soll, die einst am AVR erforscht wurde.
Den 1978er Störfall untersuchte als Erster Rainer Moormann. Der Chemiker kam zu dem Ergebnis, dort habe eine Fukushima-artige Katas-trophe gedroht. »Der AVR hätte nie betrieben werden dürfen, weil er hochgradig unsicher war«, resümiert Moormann gegenüber »nd«. Vieles sei seit dem Kommissionsbericht öffentlich - ein echter Fortschritt. »Doch es ist noch längst nicht alles auf dem Tisch«, betont der Experte. Das könne man von einer Kommission, die ein Vierteljahrhundert nach Stilllegung des Reaktors »in Teilzeit Akten wälzt«, auch nicht erwarten.
Von 1976 bis 2012 forschte Moormann am (Kern-)Forschungszentrum Jülich zu Sicherheitsproblemen von Kugelhaufenreaktoren wie dem AVR, der insbesondere den alles andere als skandalfreien THTR in Hamm-Uentrop inspirierte. Moormann startete als glühender Verfechter der Technik, entdeckte Skandale, wurde sukzessive zum Whistleblower, kämpfte für Aufklärung und gegen Widerstände - und wurde als Nestbeschmutzer und Demagoge diffamiert. Nun sieht sich der kritische Wissenschaftler bestätigt und rehabilitiert. »Der Kerntenor des Berichts lautet: An der Wissenschaft, die hier betrieben wurde, war etwas erheblich faul. Und die Atomaufsicht hat versagt, was aus meiner Sicht der eigentliche Skandal ist.« In all den fast 20 Jahren seien entscheidende Versäumnisse und enorme Sicherheitsdefizite übersehen worden. »Entweder hat die Atomaufsicht vorsätzlich weggeschaut oder sie war absolut unfähig«, schlussfolgert Moormann. Und spricht von »Kungelei ohne Rücksicht auf die Sicherheit der Bevölkerung«. Der AVR sei zwar ein extremer Fall, »er weist aber auf generelle Defizite in der Atomwirtschaft hin«.
Die Autoren des Berichts danken Rainer Moormann ausdrücklich. Ob er nun Genugtuung empfinde? »Natürlich«, sagt der Mittsechziger, »aber keine reine Genugtuung.« Dafür seien die entstandenen Schäden zu groß. Allein die Entsorgung der Brennelemente des AVR werde wohl 450 Millionen Euro kosten.
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