Werbung

SPD denken Europa neu

Bernd Zeller über die Unbegreiflichkeit und Faszination der Europäischen Union

  • Bernd Zeller
  • Lesedauer: 3 Min.

Unser heutiger Bericht beleuchtet ein anstehendes Großereignis, dessen Relevanz so unermesslich ist, dass es in den Medien, die sich mit Kleinereignissen wie Prominentenscheidungen und Adelsschicksalen oder Krisengipfeln befassen, kaum behandelt wird: die Wahl zum Europaparlament.

Die meisten wissen, was sie wählen werden, aber nicht, warum. Das Europaparlament ist, wie der Name schon andeutet, so eine Art Parlament. Der Zusatz »Europa-« oder »europäisch« verweist immer darauf, dass es um gigantische Angelegenheiten geht, die vom einzelnen Bürger nicht überblickt werden können, weshalb Giganten am Werk sind, politisch und zahlenmäßig. Angesichts der Größe der Aufgaben ist es ganz gut, dass dem EU-Parlament nicht zu viele Kompetenzen gewährt werden, wodurch sich aber die einzelnen Parlamentarier nicht gehindert fühlen, ihre Wichtigkeit im europäischen Maßstab zu sehen.

Zugleich werden die Bürger einbezogen, indem sie nach ihrer Wahlentscheidung gefragt werden. Mehr kann man den Bürgern nicht abverlangen, ohne Politikverdrossenheit zu riskieren. Demoskopen sprechen deshalb von einem Stimmungstest, was glücklicherweise niemanden dazu veranlasst, darin ein niederschmetterndes Urteil über die Wahl und die Meinungsfähigkeit der Wähler zu sehen. Zumindest ist nicht bekannt, dass Wähler gegen die Einstufung ihrer Entscheidung als Stimmung protestiert hätten.

Die Regierungspartei SPD, führende Vizekraft in der Größten Koalition aller Zeiten, plakatiert den Slogan »Europa neu denken«. Früher hätte man vielleicht noch Grammatik herangezogen und formuliert: Europa denkt neu. Oder, falls das gemeint sein sollte: Wir denken Europa neu. Neues Denken für Europa, das wäre auch noch intellektuell erfassbar. Neues Denken wollte schon Gorbatschow, vielleicht klappt es ja diesmal.

Dagegen warnen die Grünen: »Für ein besseres Europa«, und man fragt sich: Wieso, noch besser? Stimmt was nicht? Wäre etwas nicht in Ordnung, die Grünen würden es sagen. Vermutlich handelt es sich um eine grüne Selbstbegrenzung; wer die Welt verbessern will, beginnt bei sich selbst, und das ist eben Europa.

Berlusconi versucht es mit einem Slogan, der auch in Deutschland gut ankommen dürfte, nämlich: »Mehr Italien, weniger Deutschland!« Dummerweise hat er unsere Gedenkkultur beleidigt, und auf die lassen wir nichts kommen, da erwacht unser Stolz und wir halten zusammen.

Auf emotionsloser Ebene kann man alle Befindlichkeiten verstehen. Wer der Auffassung ist, dass Russland vom Westen gedemütigt worden ist, muss feststellen, dass das auch für Italien gilt, wie überhaupt für die meisten Länder. Die Demütigung Russlands bestand größtenteils darin, dass wir nichts Besseres als Gerhard Schröder zu liefern hatten. Italien ächzt unter dem Verlust des Römischen Reiches, Spanien und Portugal sind abgestiegene Weltmächte, Großbritannien sowieso, na und die Holländer erst. Österreich ist minimale Gegenwart bei maximaler Vergangenheit, Deutschland hat es auch mal versucht, eigentlich ist nur die Schweiz ein Ort jahrhundertelanger Stabilität, und die gehört nicht zur EU. Alle anderen Nationen haben schlechte Erfahrungen mit ihrer Nationalität gemacht und wünschen sich nichts sehnlicher als das Aufgehen im Großen und Ganzen unter Wahrung regionaler Eigenarten.

Angesichts all dessen ist jedenfalls Europa als solches recht unbelastet. Zum Ausdruck bringt dies am besten Martin Schulz, der sich als Europäer ein Auftreten leisten kann, das ihm als Deutschem nicht zustünde. Hierin zeigt sich das Visionäre der Europawahl; man stimmt für Parteien, nicht etwa für Länder. Dass die Parteien die Länder überdauern, hätte man nicht unbedingt zu hoffen gewagt, doch man muss gewiss nicht mehr lange warten, bis Martin Schulz den Satz ausspricht: »Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Europäer.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.