Sachsens Geschichte in Scherben
Einladung zur Zeitreise - heute wird in Chemnitz das Landesmuseum für Archäologie eröffnet
Wenn Archäologen den Spaten ansetzen und nach Zeugnissen der Vergangenheit suchen, finden sie vor allem eines: Scherben. 19 Millionen Fundstücke lagern in den Archiven des sächsischen Landesamtes für Archäologie, die Hälfte davon sind Bruchstücke aus Keramik. In einem neuen Landesmuseum für Archäologie, das heute in Chemnitz eingeweiht wird, soll der Besucher einen kleinen Eindruck davon bekommen: In einem Kabinett hängen 500 säuberlich und einzeln in Tüten verpackte Scherben; Spiegel sorgen für eine optische Vermehrung der tönernen Artefakte. Auch für die Mühe, die Archäologen bei der Suche nach zueinander passenden Stücken haben, soll der Besucher ein Gefühl bekommen: Am Bildschirm kann er selbst puzzeln.
Viele originale Fundstücke, dazu Anschaulichkeit und spielerische Vermittlung - mit diesem Rezept lädt das Museum die Sachsen zur Zeitreise und zum Besuch bei ihren Vorfahren ein: bei Jägern, die vor 10 000 Jahren durch eine noch fast menschenleere Landschaft streiften; bei Bauern, die vor 7000 Jahren Häuser und Brunnen aus Eichenbohlen bauten und darin schön verzierte Keramikkrüge hinterließen; schließlich bei Siedlern, Bergleuten und Händlern des Mittelalters. Das Haus schlage auf 3000 Quadratmetern einen Bogen durch 300 000 Jahre sächsischer Geschichte, sagt Sabine Wolfram, die Leiterin. Den Schlusspunkt bilden die Industrialisierung mit dem Bau der ersten Bahnlinien, die Entfernungen schrumpfen ließen und das Leben beschleunigten: »Was danach kommt, gehört in Industrie- und Stadtmuseen.« Wie gravierend der Mensch schon in den Jahrtausenden zuvor das Land veränderte, lässt sich in dem Haus auf vielfältige Weise sinnlich erfahren. Im Lichthof schwebt ein topografisches Modell des Landes, das von den Besuchern über Bildschirme gesteuert werden kann und auf dem der Verlauf der Eiszeiten ebenso dargestellt werden kann wie die Besiedlung des Landes oder die Entstehung der Städte.
Durch das Treppenhaus zieht sich ein 21 Meter hoher Profilschnitt durch die Erdschichten - von den Kohlelagerstätten bis zu Kellerfundamenten und Abwasserleitungen. Eine Panoramawand in der dritten Etage zeigt 1300 Zeugnisse menschlichen Alltagslebens - von Ofenkacheln aus vielen Jahrhunderten über Sparschweine bis zu filigranen Totenkronen. Zur Reise in die Geschichte soll das Museum, für das erste Ideen bereits vor zwölf Jahren entwickelt wurden und dessen Bau das Kabinett schon 2006 beschlossen hatte, freilich längst nicht nur die Sachsen einladen. Das Haus werde »über die Landesgrenzen ausstrahlen« und Maßstäbe für Mitteleuropa setzen, glaubt Sabine von Schorlemer, die parteilose Wissenschaftsministerin. Der Freistaat hat sich dieses Unterfangen einiges kosten lassen: 15 Millionen Euro berappte er für die Ausstellung, 18,7 Millionen Euro an Städtebaumitteln flossen in die Sanierung des Hauses.
Bei diesem handelt es sich um eine Ikone der modernen Architektur in Chemnitz: das Kaufhaus Schocken, das der deutsch-jüdische Architekt Erich Mendelssohn für das Handelsunternehmen der Brüder Simon und Salman Schocken entwarf. Es öffnete vor genau 84 Jahren am 15. Mai 1930. Später wurde die Firma »arisiert«; die Inhaber flüchteten vor den NS-Machthabern ins Exil nach Palästina. Unter den Namen Merkur, Centrum und Kaufhof war das Kaufhaus bis 2001 in Betrieb und wurde dann geschlossen.
Die Geschichte des Gebäudes, seines Architekten und der Unternehmerfamilie wird nun in einer Sonderschau gezeigt. Zur Eröffnung werden heute auch Nachfahren der Brüder Schocken nach Chemnitz kommen - erstmals seit der Vertreibung ihrer Vorfahren. Das neue Museum, sagt von Schorlemer, werde damit auch zum »Symbol der Versöhnung«.
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