Europa sucht den Superstar
Historische TV-Debatte von Spitzenkandidaten
So etwas hat es in der Geschichte der Europawahl, der Europapolitik gar, noch nicht gegeben: Die Europäer in allen 28 EU-Mitgliedsstaaten konnten am Donnerstagabend live die TV-Debatte der fünf Spitzenkandidaten zur Europawahl verfolgen. 40 Fernsehsender und noch mehr Internetplattformen übertrugen die Sendung aus dem EU-Parlament in Brüssel. Fragt sich nur, wer auch eingeschaltet hat.
Schon oft haben diese Kandidaten zusammen debattiert, aber noch nie in gefühlter Anwesenheit von Gesamteuropa, von 500 Millionen Menschen. Es ist klar: Hier passiert etwas Besonderes. Während die fünf Spitzenkandidaten sich wenige Minuten vor 21 Uhr auf der Bühne einrichten, entstehen Dutzende »Selfies« in den Zuschauerreihen, Selbstporträts mit historischer Debatte im Hintergrund. Motto: Ich war dabei.
Nominiert von ihren Parteien konkurrierten der linke Grieche Alexis Tsipras, die Deutschen Ska Keller (Grüne) und Martin Schulz (SPD), der luxemburgische Konservative Jean-Claude Juncker sowie der belgische Liberale Guy Verhofstadt um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. 90 Minuten lang stellten sie sich den europapolitischen Fragen und hatten jeweils 60 Sekunden Zeit für Äußerungen zur Ukraine, Jugendarbeitslosigkeit, Wirtschafts- und sozialen Krise, zu Flüchtlingspolitik, Korruption und Lobbyismus sowie zur wachsenden EU-Skepsis.
In Brüssel sind sie sich der Bedeutung dieser Debatte bewusst. Zum ersten Mal werden mit den Spitzenkandidaten und der Live-Debatte bei einer Europawahl neue Wege beschritten. Klaus Welle, Generalsekretär des Europaparlaments, würde sie als Wege zu einer Wahl beschreiben, die europäischer wird und erstmals auch den nationalen Wahlen gleicht. »Zum ersten Mal stimmen die Wähler nicht nur über ihre Abgeordneten ab, sondern sie haben auch Einfluss auf die Besetzung der Brüsseler Exekutive, also der EU-Kommission.« Andererseits sind sie im Parlament erdverbunden genug um zu wissen: Was sich in Brüssel wie Geschichtsschreibung anfühlt, wirft vor Ort bestenfalls neue Fragen auf. »Ob außer uns noch jemand zuguckt?«, fragt eine schwedische Journalistin zwei Sitze weiter.
Um Punkt 21 Uhr ertönt die Europahymne und die Moderatorin fragt forsch in die Runde: »Who should get the top job – Wer kriegt den Spitzenjob?« Für einen Moment meint man, nicht in einer seriösen politischen Runde, sondern einer unterhaltsamen Casting-Show gelandet zu sein – Europa sucht den Superstar. Tatsächlich sucht Europa den neuen EU-Kommissionspräsidenten, ganz richtig ist das aber auch nicht, denn noch immer ist unklar, wie der Kommissionspräsident nach der Europawahl bestimmt wird.
Das Parlament ist fest überzeugt, dass der nächste Kommissionspräsident – je nach Ausgang der Wahl – in Abstimmung mit dem Rat ernannt und vom Parlament gewählt wird. Der Europäische Rat, also die Regierungschefs, sehen das aber anders. In den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten kommen die fünf Spitzenkandidaten nicht überall gut an. Angeblich vergebe man in den Hinterzimmern der großen Politik bereits »Trostpreise«. Schulz könne das Amt der scheidenden EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton beziehen, Verhofstadt Parlamentspräsident werden, kolportieren verschiedene Medien.
Wie kommt das wohl bei den Wählern an? Dass da in einer Live-Debatte vor Millionenpublikum Spitzenkandidaten um einen Job konkurrieren, der ihnen möglicherweise gar nicht zusteht? Selbst wenn es so wäre: »Was nützt es, wenn ein griechischer Zuschauer von Verhofstadt überzeugt ist, ihn aber nicht wählen kann, weil es bei uns gar keine liberale Partei gibt?«, wie ein griechischer Journalist anmerkt. Könnte die gut gemeinte Debatte am Ende den EU-Skeptikern in die Hände spielen?
Man könnte die Debatte als realitätsfern kritisieren. Man kann aber auch in dem Gefühl des historischen Moments verharren und die Debatte dafür loben, dass sie überhaupt stattgefunden hat. Eines wird an diesem Abend deutlich: Bei allen Differenzen zu einzelnen Themen steht über jeder politischen Herangehensweise der Wunsch aller Kandidaten, gemeinsam an die großen Probleme in der EU heranzugehen.
Der größte Applaus kommt da, wo die Kandidaten einvernehmlich und entschlossen klarstellen: Das Parlament – nicht der Rat in Hinterzimmern – entscheidet über den nächsten Kommissionspräsidenten. So stehe es im Vertrag von Lissabon. Und noch einmal braust das Publikum begeistert auf, als Verhofstadt ankündigt, als ersten Akt im Amt des Kommissionspräsidenten die Standleitungen nach Berlin und Paris zu kappen. »Wir brauchen eine richtige Führung und Unabhängigkeit von den Regierungen.« Hier liegt das historische Moment begründet. Die Chance des Parlaments und vielleicht der Kommission, endlich in Europa wahrgenommen zu werden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.