Köln: Zehntausende gegen Erdogan auf der Straße

Polizei zählte am Nachmittag 45.000 / »Überall Taksim - überall Widerstand«: Demonstranten ziehen durch die Innenstadt / Erdogan-Zuhörer auf den Gast eingeschworen: »Gott ist groß« / Fußtritt-Berater Yerkel offenbar entlassen

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Berlin. Mehrere zehntausend Menschen haben am Samstag gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seinen Besuch in Köln protestiert. Bereits am Mittag versammelten sich laut Polizei rund 30.000 Demonstranten, die durch die Innenstadt zu einer Kundgebung marschieren wollten. »Stoppt den Diktator Erdogan«, forderten die Teilnehmer auf Plakaten. Manche skandierten »Mörder« und »Faschist«. Im Internet war von bis zu 50.000 Menschen die Rede, die sich zur Stunde an den Protesten gegen Erdogan beteiligen. Polizisten vor Ort schätzten die Teilnehmerzahl wegen des stetigen Zulaufs am Nachmittag ebenfalls auf rund 45.000.Wie eine Polizeisprecherin dem Evangelischen Pressedienst (epd) sagte, verlief die Gegendemonstration in der Innenstadt »vollkommen friedlich«.

Viele Demonstranten warfen dem türkischen Regierungschef vor, Menschenrechte einzuschränken und Minderheitenrechte zu missachten. Die Meinungsfreiheit in der Türkei werde immer weiter beschnitten. Teilnehmer der alevitischen Gegendemonstration kamen aus ganz Deutschland und trugen Spruchbänder in deutscher, türkischer, kurdischer und französischer Sprache. Mit Rufen wie »Überall ist Taksin, überall ist Widerstand« erinnerten sie an die Demonstrationen auf dem Istanbuler Taksin-Platz im vergangenen Jahr. Kölner Demonstrationsteilnehmer warfen Erdogan auch die Unterdrückung von Minderheiten und einen unsensiblen Umgang mit dem Grubenunglück von Soma vor, bei dem am 13. Mai über 300 Menschen ums Leben kamen. Viele Demonstranten trugen Bergbauhelme mit der Aufschrift Soma.

Schon am Mittag waren zahlreiche Menschen mit T-Shirts mit der Aufschrift »Überall Taksim - überall Widerstand« zu sehen, womit sie auf die Proteste gegen die islamisch-konservative Regierung der Türkei auf dem Taksim-Platz in Istanbul anspielten. Andere trugen gelbe Sicherheitshelme mit dem Aufdruck »Soma«. Bei dem verheerenden Grubenunglück von Soma waren nach offiziellen Angaben 301 Bergleute ums Leben gekommen. Die Protestaktion unter dem Motto »Wir sagen Nein zu Erdogan« begann am Mittag auf dem Ebertplatz in der nördlichen Kölner Innenstadt. Demonstranten trugen Transparente mit Aufschriften wie »Tayyip Erdogan - Der Wolf im Schafspelz« oder »Mörder Erdogan«. Zu der Aktion hatte die Alevitische Gemeinde in Deutschland aufgerufen.

Zugleich trafen auf der anderen Rheinseite mehr als zehntausend Anhänger des türkischen Regierungschefs ein. Manche hatten schon seit den frühen Morgenstunden ausgeharrt. Vor der erwarteten Rede des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in der Kölner Lanxess-Arena haben die Veranstalter die Zuhörer auf den Gast eingeschworen worden. Egal welche Propaganda gegen Erdogan gemacht werde, »wir stehen hinter dir«, versicherte ein Redner am Samstag. Die Besucher jubelten und schwenkten Tausende türkische Fahnen. »Märtyrer Erdogan«, skandierten viele, und »Gott ist groß«. Ein anderer Redner warf den Deutschen vor, nichts für die Türken getan zu haben. »Die Türkei ist die größte Nation«, rief er. Anschließend wurde eine Schweigeminute für die Opfer des Bergwerkunglücks von Soma abgehalten.

Vor dem heftig umstrittenen Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Köln hat der Oberbürgermeister der Stadt zur Mäßigung aufgerufen. »Zeigen wir in Köln, dass wir - auch wenn wir unterschiedlicher Auffassung sind - friedlich miteinander umgehen«, sagte Jürgen Roters (SPD) am Samstagmorgen im Sender WDR 5. Es sei allerdings »schon eine gewisse Provokation nach dem schweren Grubenunglück und vor dem Hintergrund von gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Türkei«, sagte Roters.

Linksfraktionschef Gregor Gysi forderte die Bundesregierung am Freitag auf, »dem türkischen Regierungschef unmissverständlich zu signalisieren, dass sie den Einsatz scharfer Munition gegen die eigene Bevölkerung nicht billigt«. Außerdem sagte Gysi mit Blick auf die neuerlichen Proteste in der Türkei, die Bundesrepublik solle Erdogan »unter diesen Umständen nicht als Bühne für PR-Auftritte dienen«. Der türkische Regierungschef solle »sich den Fragen seiner Bevölkerung in der Türkei stellen«. Ähnlich äußerte sich die Linkenpolitikerin Sevim Dagdelen. Erdogan dürfe seinen Aufritt »nicht erneut nutzen, um den demokratischen Protest zu kriminalisieren«. Die Bundesregierung dürfe »die Gewaltpolitik Erdogans und seiner AKP gegen Demokratie und Menschenrechte hin zu einem islamistischen Unterdrückungsstaat nicht länger unterstützen«. Die Bundestagsabgeordnete sagte, ihre Partei solidarisiere sich mit den Demonstranten in der Türkei und in Köln, die »auch gegen die Komplizenschaft der Bundesregierung mit Erdogan« protestieren würden.

Auch zahlreiche andere Politiker hatten Erdogans geplanten Auftritt in Köln kritisiert. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir, betonte: »Ministerpräsident Erdogan sollte wissen, dass er hier auch als Repräsentant der Türkei spricht und nicht in eigener Sache einen Wahlkampf machen kann, der die Konflikte der Türkei nach Deutschland trägt und die Situation weiter aufheizt.« Der stellvertretenden Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Thomas Strobl, sagte: »Unsere Demokratie ist stabil und hält Meinungsvielfalt aus. Insofern halten wir auch den Wahlkampfauftritt von Herrn Erdogan aus.« Es wäre aber besser gewesen, wenn dieser erkannt hätte, »dass er im Moment in der Türkei wichtigere Aufgaben hat als einen Wahlkampfauftritt in Köln«.

Unterdessen Unterdessen hat Edogan seinen Berater, der nach dem schweren Grubenunglück in Soma auf einen Demonstranten eingetreten hatte, entlassen. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu am Samstag berichtete, wurde Yusuf Yerkel bereits am Mittwoch gefeuert. Yerkel hatte bei einem Besuch in Soma vor anderthalb Wochen mehrfach auf einen am Boden liegenden Mann eingetreten, der von Polizisten festgehalten wurde. Ein Foto von dem Vorfall sorgte international für Empörung. Yerkel bedauerte später, dass er wegen zahlreicher »Provokationen, Beleidigungen und Angriffe« außer sich geraten sei. Für die Attacke selbst entschuldigte er sich nicht. Nach dem Vorfall war Yerkel sieben Tage krank geschrieben, weil er sich bei den Tritten angeblich selbst am Bein verletzt hatte.

Seit dem verheerenden Bergwerksunglück in Soma mit mehr als 300 Toten gibt es in der Türkei heftige Proteste, die sich auch gegen Erdogan und seine konservativ-islamische Regierung richten. Die Demonstranten werfen ihr eine Mitverantwortung an dem Unglück vor. Kritik gab es auch an Erdogans Umgang mit der Katastrophe. Bei einem Besuch am Unglücksort hatte er Bergwerksunglücke als unvermeidlich dargestellt. Auch Erdogan selbst soll Betroffene tätlich angegriffen haben, womit er weiteren Unmut provozierte. Agenturen/nd

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