Das kleine Schwarze auf dem Stuhl

»Wassa Schelesnowa« von Maxim Gorki am Deutschen Theater Berlin

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Aus dem Samowar auf dieser Bühne ist ein moderner Wasserkocher geworden - das Russische ist nicht mehr das, was es war. Russland ja auch nicht. Der Sozialismus ging, die Mafia kam. Statt Oktjabr die Orthodoxie. Systemkritiker werden in Käfigen vorgeführt, Schwulenjäger im Kreml geben die Gesetze vor und pochen darauf, dass sich die Welt gefälligst an den toleranten Volksmund hält: andere Länder, andere Sitten.

Andere Länder, die gleichen Unsitten. Alle Zeiten eine Zeit. Wassa Schelesnowa ist hier nicht die kapitalistische Matrone in der Zeit nach einer gescheiterten Revolution (1905), sie ist eine Leidende nach allen gescheiterten Aufbrüchen und Umbrüchen. Sie ist der Zusammenhalt, der ausgelacht wird. Sie ist der Familiensinn, an den sich Parasiten krallen. Sie ist die Ordnung, ausgelacht vom Chaos. Sie will Mutter sein, und muss deshalb Marter sein. Aber was immer sie für andere tut: Es wird von denen nur zurückgemartert.

Stephan Kimmig inszenierte Maxim Gorkis »Wassa Schelesnowa« am Deutschen Theater Berlin (Bühne: Katja Haß): Zwischen metallenen Gestängen, die uns die Auskunft darüber verweigern, ob sie einem Aufbau oder einem Abriss gehören, tigert Corinna Harfouch wie gefangen. Im roten Pullover, dessen Ärmel sie sich über die Hand zieht, als könne so eine frierende Seele gewärmt werden. Wassa, ein Panzer, den es fröstelt. Als flösse Herzblut einzig noch durch Krampf-Adern. Welch erdrückende Anstrengung, beherrscht zu bleiben in der aggressiven Gemeinheit ringsum. Wenn sie nach wenigen Minuten das erste Mal »Familie« sagt, sehr beiläufig, ist das Stück schon zu Ende. Dies Wort ist ein ganz sanftes Erbrechen, ein zartes verächtliches Ausspucken. Ein Todesurteil, abgeschmeckt auf einer Zunge, die aber noch im Bittersten Restsüße erhofft. Es ist, als wolle sie einen Scherbenhaufen in ein Schaumbad verwandeln. Wassa, die Transportunternehmerin am Rande des Bankrotts, sie spürt: Alles hat seinen Preis, vor allem das Unbezahlbare. Eine Frau, die sich Selbstenthärtung nicht leisten kann. Härte aber tötet Weiblichkeit. Emannzipation.

Das spielt die großartige Harfouch mit einer Schärfe, die in jedem Moment eine ummauerte Liebessehnsucht offenbart. Sie ist der Axtstiel, der von einer Existenz als Rosenstock träumt; der Eiszapfen, der gern Sonnenstrahl wäre. Wäre, wäre. Geht aber nicht inmitten einer schreienden, stampfenden Verwandtschaft. Fortwährend nur Beleidigungen und Verletzungen. Die Organisationsform dieser »Familie«: die Orgie, der gespenstische Vergessenstaumel hinterm Rücken der Hausherrin. Die Inszenierung brüllt exekutierend, sie stiert stumpf, sie schweigt besoffen, sie drischt nasse Handtücher auf krumme Rücken, sie latscht mit schlammbeklebten Schuhen über die Bühne, bleiern und lauernd. Ohne dass noch jemand Sinn und Verstand haben dürfte. Das aber ist die bewegende Frage: Wie viel an Sinn, an Verstand ist heute überhaupt noch austeilbar mitten im Traumleeren? In einem Theater auch, das sich nur am Leben erhält, indem es sein übermächtiges Gefühl von Leblosigkeit in einen äußeren Ausdruck verwandelt, in gewalttätige Abgeschlafftheit. Es ist wie Steinewerfen im Plexiglashaus - die Steine knallen zurück, und das Theater zeigt orgiastisch seine Kunstblutwunden.

Im Keller stirbt gerade Wassas Mann, er stirbt seit Monaten. Der Schwager (Michael Goldberg: schnauzig-schnoddriger Filou) will sein Geld aus dem Unternehmen ziehen, das wäre der Tod vom Geschäft. Also von Wassas Leben. Da hilft nur des Schwagers Tod. Also: Vergiftungspläne. Wassa kichert erschrocken, im Erschrecken geilt sich die Lust auf. Wenn sie aufschaut, sich umschaut, tölpelt, tobt Realität sie an: Papiere, Gefühle, Hoffnungen, Beziehungen - alles gefälscht. Jeder Leistung, die hier etwas retten will, haftet die Dreistigkeit der Zerstörung, der Knechtung, des Herzekels an. Der Besitzfraß schmatzt sich durch alle Lebensbahnen. Unmerkliche Steigerungen aus Müdigkeit, Teetrinken, Reden, Stieren, Sitzen, Weghuschen, Hereinpoltern, Aufspringen, Weinen, hitzigem Erkalten.

Franziska Machens, Christoph Franken, Lisa Hrdina, Bernd Stempel, Alexander Khuon: alle mit einem jeweilig speziellen Anteil an fläziger Dummheit, hilfloser Empörung, träg-trunkener Apathie, mürrischer Wesenlosigkeit, trocken-tumber Bosheit. Katharina Marie Schubert als Tochter Ljudmila ist flattrig lebensfroh und doch schon gemordet von Ohnmacht und Fluchtschwäche. Einmal wird Wassas Assistent (Marcel Kohler) verprügelt und hat nichts Besseres zu tun als das Schlachtfeld fein säuberlich wieder in eine Tischordnung zu verwandeln. Lass dich quälen und halt die Fresse! Sage niemand, diese Regel brächte keinen Frieden.

Immer wieder die Harfouch: geplagt vom ewigen Alarm der Nerven. Sie hält - ohne Geld - verzweifelt zu ihrer dogmatischen Weltanschauung, wie jemand, der für seine dogmatische Weltanschauung keine Welt benötigt. Unablässig bleibt sie Wachturm gegen die feisten, frechen, fordernden Anwürfe der Ihren: mehr Freiheit, mehr Liebe! Also: mehr Geld! Der innere Wall von Wassas Kraft, er bebt, aber nach außen pressen die Lippen sich mehr und mehr zusammen. Mit müde geschlossenen Augen vertreibt man die Wahrheit am besten. Du kannst es regelrecht sehen: Da will ein Gehirn Entscheidungsgranit werden und wird doch weich werden. Weich werden, was heißt das? Am Schluss legt Wassa eine Pistole auf einen Stuhl. Das kleine Schwarze, da auf dem Stuhl: Wer wird danach greifen? Wassa geht nach hinten ab, als sei sie eine Nachfahrin von Ibsens Nora. Das Geld ist alle, also gibt es auch keine Sorgen mehr. Ein Lächeln. Als habe sie begriffen: Der Reichtum ist es, der arm macht. Ist aber doch auch nur wieder eine Lüge. Des Menschen Tod ist da, wo Niederlagen fortdauernd in Siege umgelogen werden - aber darin besteht auch alles Leben. So geht immer alles zu Ende, doch ein Ende des Elends ist nie absehbar.

Gern wird Gorki mit Tschechow verglichen. Tschechow, der Bürger - Gorki, der Revolutionär. Wo ein Tschechow liebt, zeigt Gorki kühl her. Wo uns Tschechow mitnimmt, nimmt Gorki nur wahr. Wo Tschechow leidet, steigert Gorki seine Nüchternheit. Wo Tschechow mit Trauer den stets nur verhältnismäßigen Menschen singt und das stets nur verhältnismäßige Leben, da klärt Gorki darüber auf, dass die kapitalistischen Verhältnisse mäßig sind. Nein, nicht mäßig: bitter und böse. In Tschechows zeitlos mühebeladener Welt ist nichts abwendbar, in Gorkis Sozialprovinzen aber flüstert unter der Haut der Dinge eine Zeitenwende. Alfred Kerr fühlte in Gorkis Dramatik »ein Zagen des Verfeinten«, sah ein »Würgen« der Menschen inmitten »schwärzlich anrollender Flut«, sprach von denen, »die auf dem Weg vom Tier zum Gott kaum bis zur Mitte« gelangten. Die Mitte jeder Gesellschaft: das wahre Wölfische?

Zeitenwende? Nein. Gorki ist bei Kimmig sehr heutig: Der aufgestörte Engel der Zeit fliegt unsicher über schwankendem Grund, er darf sich in dieser groben, herben Dramatik am DT erfasst fühlen. Kimmig zieht vom Leder, was die Befunde angeht. Er zieht runter. Nichts zieht den Geist und das Gefühl zu helleren Horizonten. Denn es kommt ja derzeit etwas an eine Grenze, die jeder fürchtet. Die Verzweiflungen verschiedenster Art bilden schon einen Freundeskreis durch alle Kontinente. »Wie lange hält uns die Erde aus/ Und was werden wir die Freiheit nennen«, eine Frage des Dichters Volker Braun. Der Dichter fragt, wer eigentlich noch? So, dass es gehört wird? Wassa dreht uns, weggehend, den Rücken zu. Leicht wirkt sie, als sei es höchste Freiheit, nicht mehr von dieser Welt zu sein.

Nächste Vorstellung: 16. Juni

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.