Die Elastizität des Bodens

Folge 37 der nd-Serie Ostkurve: Fußballweltmeisterschaft 1974 - Die DDR spielt in einem brisanten politischen Umfeld ihr einziges Weltturnier

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 8 Min.

Als in diesen Tagen vor 40 Jahren das Aufgebot der DDR-Fußballnationalmannschaft für die Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik Deutschland in der Sportschule Kienbaum bekanntgegeben wurde, war das noch keine keine Titelseiten wert. Das Wohl und Wehe der Nation hing noch nicht vom Schussglück des einen oder der zwickenden Wade des anderen Spielers ab. Im trockenen Nachrichtenstil vermeldet das »Neue Deutschland« damals: »Das WM-Aufgebot der DDR wurde an die FIFA gemeldet«. Darüber jeweils ein kleines Schwarz-Weiß-Foto der 22 Spieler – unter der Meldung, ebenso groß, eine Anzeige, dass der VEB Maschinen- und Materialreserven Dresden 34 Kreiselpumpen »Typ HN 7a« sofort liefern könne.

Als Vertreter einer Nation sollen die DDR-Spieler als »Diplomaten in Trainingsanzügen« nach dem Willen der Sportfunktionäre bei dieser WM sowieso nicht mehr auftreten – und damit vorwegnehmen, wie sich das Selbstverständnis des sozialistischen Staates auf deutschem Boden ändern sollte: Eine Verfassungsänderung steht im Herbst 1974 an. Hieß es im Artikel eins der Verfassung von 1968 noch: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat deutscher Nation.«, gilt ab dem 7. Oktober 1974, dem 25. Jahrestag der Staatsgründung, folgender Artikel eins: »Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern.« Der Verweis auf deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten tritt zurück hinter den Staat, der sich zuerst als sozialistisch definiert und dann erst als deutsch. Das wird auch während der WM mehr als einmal deutlich.

Bevor das DDR-Nationalteam am 11. Juni mit dem Flugzeug nach Hamburg reist, werden die 22 Spieler vom Jüngsten, dem 19-jährigen Martin Hofmann vom 1. FC Magdeburg, bis zum Ältesten, dem 33-jährigen Wolfgang Blochwitz vom FC Carl Zeiss Jena, noch einmal genau instruiert, wie sie sich in der BRD zu benehmen haben: Verhalten Sie sich nett und freundlich zu den Bürgern, seien Sie zuvorkommend! Lok Leipzigs damaliger Stürmer Wolfram Löwe erinnert sich in der »Leipziger Internet Zeitung«: »Uns wurde erlaubt, uns frei zu bewegen, wir sollten aber immer zu zweit gehen. Dies haben wir dann für uns abgeändert und sind doch allein gegangen. Warum soll ich mit einem Nickis kaufen gehen, wenn ich selbst nach Schallplatten gucken will?«

Vorher trainiert die Nationalmannschaft jedoch noch einmal in dem Stadion, in dem das zweite Spiel der Vorrundengruppe I gegen Chile stattfinden soll. Der Weg von der Sportschule Kienbaum ist nicht weit: Mit dem Bus geht es in das Westberliner Olympiastadion, dort macht sich die Auswahl von Nationaltrainer Georg Buschner während eines 90-minütigen Trainings mit den Örtlichkeiten vertraut. Der Weltverband FIFA hat die WM-Organisatoren angewiesen, jedem Endrundenteilnehmer eine Trainingseinheit an den Spielorten zu gewähren: »Uns interessiert, wie wir uns vor dem Spiel warmmachen können ebenso wie die Elastizität des Bodens und die Lichtverhältnisse«, gibt Buschner zu Protokoll. Vor der Rückfahrt beantwortet Buschner noch Fragen von Journalisten »aus Westberlin und der BRD«, wie das »nd« vermerkt. Für diese ist vor allem das dritte Gruppenspiel interessant.

Am 5. Januar 1974 hatte der Schöneberger Sängerknabe Detlef Lange im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks die Mannschaft der DDR der als Gruppenkopf und Gastgeber gesetzten Mannschaft der Bundesrepublik als Gegner zugelost. Schätzungsweise 800 Millionen Menschen verfolgten die Auslosung weltweit im Fernsehen. Zunächst Stille im Sendesaal, dann langer Beifall. Am 22. Juni würden beide Teams im Hamburger Volksparkstadion im dritten Spiel der Vorrunde aufeinandertreffen.

Vorher heißt es aber für die DDR-Kicker: Ab ins Sporthotel nach Quickborn! Die Hotelangestellten mögen ihr bestes getan haben, um das erst ein Jahr vorher eröffnete Quartier in Schuss zu bringen, an der Lage des Quartiers können sie nichts ändern: Es liegt direkt neben der Autobahn. Von Ruhe also keine Spur, aber die Spieler haben auch so genug Ablenkungen. Erst einmal steht ein Training im für die Weltmeisterschaft komplett modernisierten Hamburger Volksparkstadion an. Neuer Rasen, Flutlicht und dazu Platz für bis zu 60 000 Zuschauer: Nach Ansicht von Nationaltrainer Buschner kann der Ort des ersten Gruppenspiels gegen Australien durchaus als den »WM-Ansprüchen gerecht werdend« bezeichnet werden. Am nächsten Vormittag wieder Training, diesmal im Holsten-Stadion in Quickborn. Auf Bitten der Stadtväter, die offensichtlich sehr stolz darauf sind, der DDR-Mannschaft für 14 Tage Quartier bieten zu können, schließt sich noch eine Autogrammstunde an. Auch wenn die Kinder und Jugendlichen nicht immer genau wissen, wer ihnen dort genau Bälle und Poster signiert: Kreische, Croy und Irmscher sind im Westen keine Stars wie Netzer, Overath und Müller.

Vor dem ersten Gruppenspiel gegen Australien, das 2:0 gewonnen wird, steht für die Nationalspieler noch eine Sonderaufgabe an, nicht auf dem Trainingsplatz, obwohl das Verwenden einer Schere ebenfalls motorisches Geschick erfordert: Aus den brandneuen blauen und weißen Trikotsätzen müssen die Etiketten entfernt werden. Die Trikots hatte der Fußballverband der DDR (DFV) bei der westdeutschen Firma Adidas bestellt, ohne die charakteristischen drei Streifen zwar, mit den Etiketten sollte aber auch noch der letzte Hinweis auf die westdeutsche Herkunft der Spielbekleidung verschwinden. Diese zierte neben dem kreisrunden Hammer-Zirkel-Ehrenkranz-Emblem darüber in fetten Lettern der Schriftzug »DDR«, während die Nationalfarben außer im Emblem nirgendwo sichtbar wurden. Ebenso skurril mutet heute die Anweisung an, den nach einem Spiel üblichen Trikottausch nach dem letzten Gruppenspiel gegen die Bundesrepublik gar nicht oder wenn, dann nur in der Kabine vorzunehmen. Schon vor dem Spiel sind beide Mannschaften für die nächste Runde qualifiziert, auch wenn sich die DDR beim 1:1 im zweiten Gruppenspiel gegen Chile schwergetan hatte. Im ausverkauften Volksparkstadion ging es also nur noch um dem Gruppensieg. Und das Prestige.

Große Lust auf Tauschgeschäfte verspüren die bundesdeutschen Spieler nach der damals als sensationell empfundenen Niederlage im »Bruderkampf« gegen die DDR sowieso nicht, sie ahnten wahrscheinlich schon, wie ihnen vor allem die Springerpresse nach der als Schmach empfundenen Niederlage begegnen würde. »Warum wir heute gewinnen«, hatte »Bild« im Gefühl des sicheren Sieges, ganz auf die Superstars um die Bayern-Spieler Maier, Müller, Beckenbauer setzend, noch am Tag des Spiels getitelt. Der Heldensturz folgte nur einen Tag später: »So nicht, Herr Schön!«, hieß es nach dem 0:1 durch Sparwassers Tor. Der Weg vom kollektiv schunkelnden »Wir« zum empört fingerzeigenden »Du«, das sechzig Millionen Bundestrainer dem einen verantwortlichen Bundestrainer per Schlagzeile entgegenschleudern, ist manchmal nur ein verlorenes Laufduell in der 78. Minute lang.

»DDR ist Gruppensieger nach dem 1:0 gegen BRD«, geht als nüchterne Überschrift auf Seite eins des »nd« dagegen fast unter, viel wichtiger und viel mehr Platz einnehmend sind die Glückwünsche zum Tag des Bauarbeiters. Heute schwer vorstellbar, aber die Lösung sozialer Fragen, beispielsweise durch staatlichen Wohnungsbau, verweist den Fußball auf hintere Plätze. Die Bauarbeiter gratulieren den Siegern von Hamburg aber auch per Telegramm: »Liebe Sportfreunde, wir übermitteln Euch anlässlich der Veranstaltung zu Ehren des Tages der Bauarbeiter die herzlichsten Grüße, wir sind mit den Herzen bei Euch und wünschen Euch viel Erfolg.«

Zwei Tage brauchte dieses Telegramm, vielleicht ging es nach dem Sieg gegen die BRD auch zunächst unter, schließlich sorgen zunächst anonyme Anrufe im DDR-Quartier und eine Morddrohung für Aufregung. Polizisten mit Maschinenpistolen umstellen das Gelände, der gesamte DDR-Tross soll es bis zur Abreise zum zweiten Quartier für die Zwischenrunde nicht verlassen. An den Anblick Bewaffneter haben sich Spieler und Zuschauer während dieses Turniers bereits vorher gewöhnt: Von der heiteren Olympiaatmosphäre zwei Jahre zuvor in München ist spätestens seit der Terroraktion des »Schwarzen Septembers« bei diesen Sommerspielen nichts übrig. Vielmehr kündigt sich während der WM 1974 drei Jahre im Voraus – nicht nur aufgrund des durchgehend kühlen und regnerischen Wetters – der Deutsche Herbst an: Streng bewachte Mannschaftsquartiere, Training hinter Stacheldraht, alles unter dem Eindruck verstärkter Sicherheitsmaßnahmen aus Angst vor Terroranschlägen. Die Zuschauerplätze werden mit Kameras überwacht, in Hannover mischen sich 1500 Sicherheitskräfte unter die Zuschauer. Höhepunkt im Vorfeld ist eine angebliche Drohung der RAF, das Volksparkstadion in Hamburg während des Spiels BRD - DDR am 22. Juni mit Raketenwerfern zu beschießen, was die Angeklagten im Baader-Meinhof-Prozess später als Fälschung von staatlicher Seite zur Diskreditierung der RAF bezeichnen. Ein steriles und nüchternes Turnier, selbst auf dem Rasen setzt sich am Ende der kampfbetonte, auf Athletik setzende Stil durch, als sich die BRD erst gegen die spielerisch stärkeren Polen unter irregulären Bedingungen durchsetzt und im Finale dann die Fußballutopisten aus den Niederlanden besiegt.

Da sind die DDR-Spieler längst wieder zu Hause, den Mannschaftsbus ließen sie drüben. Auch um den hatte es Streit gegeben: Mercedes-Benz stellte als Sponsor jedem der Teams einen Bus in den Nationalfarben zur Verfügung gestellt, so auch der DDR. Die Sportfunktionäre erlaubten die Annahme des Gefährts erst, als nachträglich auch das Staatswappen angebracht wurde.

Durch den Sieg gegen die Bundesrepublik hatten sich die ostdeutschen Kicker selbst in die schwierigere Gruppe A der zweiten Runde gespielt. Nach Niederlagen gegen die Oranje-Kicker und Brasilien ist das abschließende 1:1 gegen Argentinien im Gelsenkirchener Parkstadion bedeutungslos. Die DDR beendet ihre einzige WM-Teilnahme auf Platz sechs, die Spieler bekommen eine offizielle Prämie vom Verband von 10 000 DDR-Mark. Und mit der Wiedervereinigung sechzehn Jahre später die Gewissheit, den Länderspielvergleich DDR - BRD auf ewig für sich entschieden zu haben. Mit einem nüchternen eins zu null.

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