Wie viele syrische Flüchtlinge nimmt Deutschland auf?
Innenminister wollen über weiteres Kontingent beraten / Linksfraktion und Pro Asyl fordern schnellere Aufnahme ohne Begrenzung / Bayern und Hessen auf der Bremse: Sorge vor Kosten
Berlin. Kurz vor Beginn der am Mittwoch in Bonn startenden Innenministerkonferenz hat Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius mehr Hilfe für Flüchtlinge aus Syrien gefordert. »Angesichts der humanitären Katastrophe fordere ich meine Kollegen und insbesondere Bundesinnenminister Thomas de Maizière dazu auf, von der IMK ein deutliches Signal zu senden«, sagte der SPD-Politiker der »Neuen Osnabrücker Zeitung«. Es müsse den Flüchtlingen spürbar geholfen werden. Pistorius forderte »ein drittes Bundesprogramm - auch mit Signalwirkung für andere europäische Länder«.
Schon vor einigen Tagen hatte die Linken-Politikerin Ulla Jelpke gefordert, die deutschen Behörden müssten »endlich schnell und ohne Begrenzung« die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus Syrien ermöglichen. »Die Bundesrepublik hat bislang die Aufnahme von insgesamt 10.000 syrischen Flüchtlingen zugesagt, von denen erst 4.200 eingetroffen sind. Ein weiteres Kontingent von 10.000 löst die Probleme des langwierigen Aufnahmeverfahrens nicht und ist angesichts von drei Millionen Flüchtlingen in den Anrainerstaaten Syriens nur symbolischer Natur«, so die Bundestagsabgeordnete.
Auch die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl hat deutlich weitergehende Anstrengungen bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen gefordert. Die EU müsse »ein konzertiertes Aufnahmeprogramm« beschließen, heißt es bei der Organisation. »Die beschämende europäische Verweigerungshaltung und Gleichgültigkeit angesichts der größten humanitären Krise dieses Jahrhunderts muss beendet werden«, kritisierte Karl Kopp von Pro Asyl. Die 28 EU-Staaten hätten für die Flüchtlinge derzeit noch nicht einmal 20.000 Plätze in Aussicht gestellt. Die Mitgliedstaaten sollten zudem »unbürokratische Familienzusammenführungen ermöglichen«. Allein in der Bundesrepublik bestehe mittlerweile »ein Bedarf von knapp 80.000 Plätzen für einen erweiterten Familiennachzug aus dem Bürgerkriegsland«.
Vor der Innenministerkonferenz hatte sich bei den Bundesländern bereits eine breite Bereitschaft abgezeichnet, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Auch der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der Nordrhein-Westfale Ralf Jäger (SPD), warb für die Unterbringung weiterer syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge. Einige Länder - besonders Bayern und Hessen - treten aber auf die Bremse. »Im Prinzip wären alle Bundesländer bereit, noch einmal ein Kontingent aufzunehmen, weil der dringende Bedarf gesehen wird«, sagte Innenminister Joachim Herrmann (CSU). »Es gibt aber noch keine Einigung mit dem Bund über die Kosten. Der Bund hat ein großzügiges Kontingent festgelegt, will aber wenig zahlen.« Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) sagte: »Es steht völlig außer Frage, dass wir humanitär handeln und uns zur gemeinsamen Verantwortung für eine Aufnahme von syrischen Flüchtlingen mit den bisherigen Aufnahmeprogrammen bekennen«, sagte er. Zunächst müssten aber die bestehenden Programme von Bund und Ländern ausgeschöpft werden. »Solange das nicht abgeschlossen ist, bin ich zurückhaltend bezüglich weiterer Aufnahmekontingente für Flüchtlinge aus Syrien.«
An der Tagung der Innenminister nimmt auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) teil. Zum Auftakt stehen ein Abendessen und informelle Gespräche auf dem Programm. Die Ergebnisse sollen am Freitag der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Im syrischen Bürgerkrieg verließen »täglich Tausende Menschen ihr Haus oder ihre Wohnung - vielleicht sogar für immer. Diese Flüchtlinge benötigen weiterhin dringend unsere Hilfe«, sagte SPD-Mann Pistorius. »Wenn man sieht, welche Lasten die Nachbarn Syriens, wie etwa der Libanon oder die Türkei, mit der Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge schultern, wird klar, dass deutlich mehr Aufnahmebereitschaft aus Europa kommen muss.« Deutschland nehme schon jetzt viel mehr syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auf, als jedes andere europäische Land. »Wenn wir jetzt mehr für die Menschen aus der Krisenregion tun, dann muss das auch für unsere europäischen Partner gelten«, so Pistorius.
Die Innenminister der Länder kommen am Mittwoch in Bonn zu ihrer Frühjahrstagung zusammen. Zu den Themen der bis Freitag angesetzten Tagung zählen unter anderem der Kampf gegen Handy-Diebstähle, mehr Sicherheit in Fußballstadien und der Katastrophenschutz. Die Ressortchefs wollen außerdem über ein drittes Bundesprogramm zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge entscheiden. Der Aufstand in Syrien gegen die Regierung von Präsident Baschar al-Assad hatte im Arabischen Frühling 2011 begonnen. Inzwischen hat der Bürgerkrieg Aktivisten zufolge mehr als 160.000 Menschen das Leben gekostet. Millionen sind auf der Flucht.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte kürzlich angedeutet, die Bundesregierung habe sich bereits auf 10.000 weitere Plätze verständigt. Bislang gibt es zwei Sonderprogramme mit je 5.000 Plätzen für Flüchtlinge. Außerdem haben fast alle Bundesländer kleinere Aufnahmeprogramme gestartet. Flüchtlingsexperten fordern aber ein deutlich großzügigeres Kontingent. Agenturen/nd
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