80 Prozent der Oranienplatz-Flüchtlinge droht Abschiebung
Flüchtlingsrat besorgt über Schicksal der meisten der 326 Refugees / Integrationsbeauftragte Lüke sieht Henkel in der Pflicht
Berlin. Nach Ansicht des Flüchtlingsrates könnte der Mehrheit der einstigen Flüchtlinge vom Oranienplatz eine Abschiebung aus Deutschland drohen. Berlins Integrationsbeauftragte Monika Lüke sieht deshalb nun vor allem die Innensenator Frank Henkel (CDU) unterstellten Berliner Ausländerbehörden in der Verantwortung. Der Innenverwaltung betonte unterdessen, dass alle schriftlich fixierten Zusagen gegenüber den Oranienplatz-Flüchtlingen eingehalten würden. »Ohne den nötigen politischen Willen könnten bis zu 80 Prozent der insgesamt 326 registrierten Flüchtlinge abgeschoben werden«, sagte Nora Brezger, Mitarbeiterin des Flüchtlingsrats, am Mittwoch dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin. Grund dafür sei, dass die meisten Oranienplatz-Flüchtlinge von Libyen über Lampedusa nach Italien eingereist seien und einen italienischen Aufenthaltstitel hätten, bevor sie nach Deutschland kamen. Hinzu kämen Menschen, die Asylverfahren in anderen Bundesländern laufen haben sowie jene mit Duldungsstatus.
Für die friedliche Räumung des Flüchtlingscamps am Oranienplatz Anfang April hatte Berlins Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) in einer Vereinbarung zugesichert, dass die Lage der Betroffenen in Einzelfallverfahren »umfassend« und wohlwollend geprüft werden solle. Unter anderem wollte sich der Senat um eine Übernahme der laufenden Asylverfahren aus anderen Ländern bemühen. »Jetzt muss die Innenbehörde ihren Teil dazu beitragen, die mit den Flüchtlingen geschlossene Vereinbarung umzusetzen«, forderte die Integrationsbeauftragte Lüke. Sie betonte dabei: »Jede Behörde hat die Aufgabe, jeden Menschen zu unterstützen«.
Am Mittwoch waren die ersten Einzelfallprüfungen gestartet. Lüke zufolge müsse nun beobachtet werden, wie die Ausländerbehörden die Lage der Flüchtlinge bewerten und prüfen. »Es muss geschaut werden, inwieweit Asylsuchende und Geduldete von anderen Bundesländern nach Berlin geholt werden können, aber auch wie Flüchtlingen in Berlin eine aufenthaltsrechtliche Perspektive eröffnet werden kann «, sagte Lüke. Sie betonte, dass die Ausländerbehörden »einen Spielraum« dabei hätten.
Wenn die Behörden nach dem normalen Verfahren prüfen, sei es nicht möglich, dass die Betroffenen in Deutschland bleiben können, mahnte Nora Brezger vom Flüchtlingsrat. Bislang gebe es keine Signale, dass im Land Berlin tatsächlich der politische Willen existiere, den Flüchtlingen vom Oranienplatz eine Bleiberechtsperspektive zu bieten.
»Den Betroffenen wurde zugesichert, dass sie eine umfassende Prüfung der Einzelfallverfahren im Rahmen aller rechtlichen Möglichkeiten erhalten und damit in das reguläre Asylverfahren überführt werden«, betonte dagegen ein Sprecher der Innenverwaltung auf Anfrage. Vor dem Hintergrund der geplanten Abschiebung des ersten Flüchtlings vom Oranienplatz erklärte die Berliner Innenverwaltung jedoch auch, dass die Innenminister anderer Länder nicht darüber informiert worden seien, Abschiebungen von Oranienplatz-Flüchtlingen vorerst auszusetzen.
Am Dienstag war bekanntgeworden, dass ein 27-jährige Nigerianer und früherer Campbewohner am Donnerstag nach Italien abgeschoben werden soll. Der Mann war zuvor von Berlin nach Sachsen-Anhalt gereist, um seinen Aufenthaltstitel zu verlängern. Wegen ungültiger Papiere war er festgenommen worden und sitzt nun in Abschiebehaft in Volkstedt bei Eisleben. Auch Kirche und Diakonie hatten am Wochenende dem Berliner Senat vorgeworfen, sich beim Umgang mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz nicht an die mit Kolat geschlossene Vereinbarung zu halten. So müssten Zusagen des sicheren Aufenthaltes für die Dauer der ausländerrechtlichen Einzelfallprüfung eingehalten werden. epd/nd
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