Arbeitsteilung für den Knotenlöser
Mitte-Links-Regierungen scheitern nicht gesetzmäßig: Anmerkungen von Harald Wolf und Benjamin-Immanuel Hoff zu den elf Thesen von Raul Zelik
1.
In seinen elf Thesen, die jüngst in dieser Zeitung veröffentlicht wurden, stellt Raul Zelik fest, dass Mitte-Linksregierungen weder »notwendig (seien) oder auch nur im Regelfall progressive Politik nach sich ziehen«. Eher lasse sich das Gegenteil nachweisen, da sie »in den vergangenen 30 Jahren in Europa häufig jene Modernisierung im Sinne des Kapitals durchgesetzt haben, an die sich konservative Parteien nicht herantrauten«.
Was könnte sich ändern unter Rot-Rot-Grün? Elf Thesen zu Mitte-Links-Regierungen in Thüringen und anderswo. Von Raul Zelik
Dieser empirische Befund ist angesichts der europäischen Erfahrungen nicht zu bestreiten: Die Union de la Gauche in Frankreich Anfang der 1980er Jahre, Rot-Grün in Deutschland und die Regierung Hollande in Frankreich - sie alle wurden von großen Hoffnungen auf einschneidende Reformen begleitet. Sie alle vollzogen in kürzester Zeit eine neoliberale Kehrtwende und enttäuschten die in sie gesetzten Hoffnungen.
Spätestens das Scheitern der Union de la Gauche, die kaum ein halbes Jahr nach Regierungsbeginn unter dem Druck des nationalen und internationalen Kapitals, der Medien und der Drohung mit Kapitalflucht ihr ursprüngliches Programm aufgab und die Wende zu neoliberaler Politik in Frankreich einleitete, signalisierte das »Ende des sozialdemokratischen Zeitalters«. Ein vergleichbares Szenario führte 1999 zum Rücktritt Oskar Lafontaines als Finanzminister und jüngst zum Übergang Hollandes zu einer französischen Version der »Agenda«-Politik.
2.
Der systematische Hintergrund dieses Scheiterns ist keine Gesetzmäßigkeit, die organisch in Mitte-Links-Regierungen angelegt ist. Ursächlich ist vielmehr, dass beginnend mit den 1970er Jahren das keynesianisch-fordistische Akkumulationsregime mit seiner sozialstaatlichen Umverteilung, Massenkonsum und starken und selbstbewussten Gewerkschaften an seine Grenzen gestoßen ist. Infolge dessen sank die Kapitalrentabilität und eine »Profitklemme« drohte. Sozialdemokraten und mit ihnen koalierende Linksparteien verfügten europaweit, ebenso wenig wie Gewerkschaften, über eine »zum Weitermachen im demokratischen Kapitalismus alternative Strategie« (Wolfgang Streeck). In die brüchig gewordene Hegemonie wohlfahrtsstaatlicher Umverteilungspolitik stießen die Neoliberalen und entwickelten politischen, medialen und gesellschaftlichen Druck zu Privatisierung und Deregulierung. Die Ratlosigkeit von Mitte-Links, die Abwesenheit einer über den keynesianisch-fordistischen Klassenkompromiss hinausweisenden Transformationsstrategie ist der Grund für neoliberale Hegemonie. Deshalb konnte Thatchers Slogan »There is no alternative« auch bis in weite Kreise der Sozialdemokratie und Linken verfangen.
3.
Linke Reformpolitik in der Regierung braucht nicht nur klar definierte Reformprojekte, sondern auch ein Bewusstsein über die zu erwartenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Widerstände und eine Strategie der gesellschaftlichen Mobilisierung, um diese Widerstände zu überwinden.
In der Diskussion der LINKEN über Rot-Rot-Grün im Bund spielen gesellschaftliche Widerstände, die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen, Deutschlands Weltmarktabhängigkeit, die korporatistische Bindung der Industriegewerkschaften an den Exporterfolg »ihrer« Unternehmen usw. bislang kaum eine Rolle; sie verharrt damit allzu oft politisch-naiv auf der Oberfläche politischer Farbenspiele.
Eine potenzielle Mitte-Links-Regierung braucht, wie Benjamin Mikfeld jüngst thematisierte, sowohl eine ökonomische Begründung als auch eine Vorstellung vom »guten Leben«. Die ökonomische Begründung muss die Deutungshoheit der Konservativen herausfordern und ein neues sozial-ökologisches Investitionsregime in Deutschland und Europa skizzieren, das sowohl auf der Ebene der Umverteilung von Finanzanlagen in die Realkapitalsphäre für nachhaltiges Wachstum sorgt und die Investitionsklemme der Kommunen lockert, als auch privates Vermögen durch Steuern in private und öffentliche Investitionen lenkt. Die Vorstellung vom »guten Leben« setzt auf eine Begründung sozialstaatlicher Politik, die sich von autoritären Vorstellungen der Sozialpolitik ebenso wie vom Lebensführungspaternalismus verabschiedet und stattdessen auf Freiheit, Selbstverwirklichung und die Vielfältigkeit von gesellschaftlichen Milieus, Schichten und deren spezifischen Bedürfnissen setzt.
4.
Ausschlaggebend für eine linke Reformregierung ist, wie Zelik zutreffend vermutet, die »Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse«. Denn »Emanzipation ist nicht das Ergebnis einer Reformpolitik der Regierung, sondern umgekehrt stellen Reformregierungen die institutionelle Antwort auf und den Ausdruck von gesellschaftlichen Hegemonie-Verschiebungen dar.«
Eine Reformregierung für die die Situation nicht »reif« ist, die sich nicht auf relevante gesellschaftliche Kräfte stützen kann, wird scheitern. Dennoch ist sie stets mehr als ein bloßer, passiver Reflex auf Veränderungen im gesellschaftlichen Bewusstsein und der Kräfteverhältnisse. Eine Reformregierung kann und muss auch »Knotenlöser« sein - durch politische Initiativen setzt sie in der Gesellschaft bislang nur »schlummernde« emanzipatorische Potenziale und Entwicklungen frei, trägt damit zu einer weiteren Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach links bei.
Da der Staat Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist und nicht seine Ursache, ist die Vorstellung, die Gesellschaft vom Staat her befreien zu können, illusionär, wie Joachim Hirsch feststellt. Insoweit stimmen wir auch Zelik zu, dass DIE LINKE in der Regierung verdeutlichen muss, »dass sie die Selbsttätigkeit ›der Vielen‹ nicht ersetzen kann und soziale, demokratische Errungenschaften aus der Gesellschaft heraus erkämpft werden.«
5.
Problematisch ist allerdings Zeliks Schlussfolgerung, dass »Linke in Regierungsfunktionen letztlich nur zwei Optionen haben: Entweder sie akzeptieren und unterwerfen sich diesen Machtverhältnissen und versuchen, die herrschende Verteilungssituation ›möglichst wenig schlecht‹ zu verwalten, oder aber sie stellen die ›Sachzwänge‹ in den Mittelpunkt und versuchen, jene Verhältnisse strategisch zu verändern, die den vermeintlichen Sachzwang produzieren.«
Ein solches »Entweder-oder« für die Strategie einer linken Regierungsbeteiligung gibt es nicht - eher ein »Sowohl-als-auch«. Denn der Widerspruch linker Reformpolitik - einerseits im Staat und unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu arbeiten und gleichzeitig darüber hinaus zu wollen - lässt sich nicht einfach nach einer Seite hin auflösen. Der Vorschlag Zeliks, »deutlich zu machen, dass öffentliche Kassen nicht leer sind, weil Mittel knapp sind, sondern weil zugunsten von Privatvermögen umverteilt wird«, ist zwar aufklärerisch und deshalb prinzipiell richtig, füllt aber eben noch nicht die Kassen von Ländern und Kommunen.
Zur Wahrheit einer linken Landesregierung gehört, dass ihre Kompetenzen zur Einflussnahme auf die Verteilung minimal sind. DIE LINKE in der Thüringer Landesregierung oder anderswo wird stets solange von den kritisierten sogenannten Sachzwängen eingeholt werden und die knappen Mittel »möglichst wenig schlecht verwalten« müssen, solange eine neue sozialökologische Steuer- und Wirtschaftspolitik nicht bundesweit Wirklichkeit geworden ist.
6.
Hinzu kommt, dass die Wählerschaft einer Mitte-Links-Regierung als auch deren nahestehende und politisch mit ihr verbundene Verbände nicht homogen sind. Im Gegenteil - sie sind widersprüchlich, wie sich in der Energiepolitik am Konflikt zwischen Umweltverbänden und z.B. der IGBCE exemplarisch zeigen lässt.
Die Formulierung des Regierungsprogramms einer Mitte-Links-Koalition ist deshalb ein Kompromiss nicht nur zwischen SPD, LINKEN und ggf. Grünen, sondern der Vielzahl gesellschaftlicher Interessengruppen, die alle versuchen, über die verschiedensten Kanäle Einfluss auf die Regierungspolitik zu nehmen und die Öffentlichkeit für ihre jeweiligen Interessen zu mobilisieren. Koalitionsvereinbarung und Regierungsprogramm sind folglich der verdichtete Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Dass die Koalitionsvereinbarung und das Regierungsprogramm einer Mitte-Links-Regierung gemeinhin nur punktuell genuin linke Positionen enthalten, ist ebenfalls kein Ausdruck der Verhandlungsschwäche linker Regierungsakteure. Vielmehr ist zur Kenntnis zu nehmen, dass zwar einzelne politische Positionen der LINKEN gesellschaftlich mehrheitsfähig sind (z.B. Mindestlohn), aber die Gesamtheit ihrer Forderungen nicht gesellschaftlich hegemonial ist. Das gilt auch für den komfortableren Fall einer Regierung mit linkem Ministerpräsidenten. Erfolgreich verhandelt DIE LINKE in der Regel da, wo es über das engere linke Spektrum hinausgehende gesellschaftliche Unterstützung und Mobilisierung gibt
7.
Da DIE LINKE in der Regierung unter diesen Rahmenbedingungen zwangsläufig nicht alle Erwartungen, Hoffnungen und Forderungen aller Teile ihrer Wählerschaft erfüllen kann, wird sie neben Erfolgen auch Enttäuschungen produzieren.
Damit sind Konflikte und Auseinandersetzungen programmiert: Zwischen der »Partei im Staatsapparat«, das sind die Regierungsmitglieder die Fraktion, der »Partei außerhalb des Staatsapparates«, den Wählern, die mehr linke Politik in und mit der Regierung wollen und gesellschaftlichen Initiativen, die ihre Interessen häufig nur unzureichend oder gar nicht repräsentiert sehen, aber darüber hinaus sowohl für als auch gegen den Verbleib in der Regierung argumentieren.
Hier drückt sich das immerwährende Dilemma radikalreformerischer Politik aus: die Notwendigkeit der Autonomie gesellschaftsverändernder Bewegung einerseits und die Gefahr der Integration durch den Staatsapparat andererseits. Diesem Widerspruch ist nicht zu entkommen. Er muss in der Partei als logische Folge der Regierungsbeteiligung begriffen und zwingend zum Gegenstand politischer Strategiebildung werden.
Zelik schlägt dazu vor, dass DIE LINKE in der Regierung versuchen solle, »sich transparenter der Kritik zu stellen, die Grenzen ihres Handelns und ihre Misserfolge zu thematisieren und so eine Debatte anzustoßen, wie Gesellschaften verändert werden«. Tom Strohschneider ergänzt das Erfordernis, Kritik oder Widerspruch zum Regierungshandeln nicht als »Majestätsbeleidigung oder parteipolitische Blutgrätsche aufzufassen«, sondern als das, was es ist - die Artikulation einer Differenz, die sich aus den unterschiedlichen Handlungslogiken in Regierung, Parlament, Partei und Bewegungen oder Verbänden ergibt.
Da die Handlungslogiken in der Regel nicht harmonisierbar sind, muss das Ziel darin bestehen, sie nicht zu destruktiver Gegnerschaft eskalieren zu lassen. Die Kunst wäre vielmehr, daraus ein produktives Spannungsverhältnis zwischen der »Partei im Staatsapparat« und der »Partei außerhalb des Staatsapparats« und gesellschaftlichen Bewegungen zu entwickeln. Das schreibt sich einfacher als es zu machen ist.
Ein Regierungspersonal, das die gefundenen Koalitionskompromisse permanent als ungenügend in Frage stellt, wirkt wenig glaubwürdig. Eine Partei, die regelmäßig eine Koalitionskrise ausruft, diese aber angesichts der Kräfteverhältnisse nicht zu ihren Gunsten entscheiden kann, wird kurze Zeit später von der eigenen Wählerschaft und den sie stützenden Verbänden und Bewegungen als »zahnloser Tiger« angesehen.
Das daraus entstehende Bemühen von Regierungsmitgliedern und Fraktion, politische Erfolge zu kommunizieren, wird dann zur Gefahr, wenn eigentlich ungenügende oder schlechte Kompromisse legitimiert und propagandistisch überhöht werden. Das von Partei und Bewegungen oder Verbänden geforderte »Mehr« wird so häufig als störend oder gar kontraproduktiv abgewehrt.
Die »Partei außerhalb des Staatsapparats« muss die Handlungszwänge und die institutionelle Logik, denen die »Partei im Staatsapparat« unterliegt, nicht gut finden und soll sich ihnen auch nicht unterwerfen. Doch sie sollte die Handlungszwänge und die institutionelle Logik, der sich die »Partei im Staatsapparat« nicht einfach entziehen kann, als solche verstehen. Wie Zelik richtig feststellt - die Probleme einer Regierungsbeteiligung liegen nicht am »falschen Personal«, sondern an den »Machtverhältnissen, die sich als Sachzwang präsentieren«.
Notwendig ist unseres Erachtens die Entwicklung einer bewussten und klug kalkulierten Arbeitsteilung zwischen den Akteuren in der Regierung und der »Parteien außerhalb des Staatsapparats«. Daraus entstünde die Fähigkeit, gesellschaftliche Mobilisierung voranzutreiben, die über die Regierungspolitik hinausreicht, um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse weiter nach links zu verschieben, ohne in einen unlösbaren Widerspruch zur »Partei im Staatsapparat« zu geraten.
Eine solche Arbeitsteilung verlangt ein hohes Bewusstsein aller Beteiligten und die Fähigkeit uneigennützig sowie ohne Voluntarismus die Widersprüche, die aus den unterschiedlichen Rollen und Handlungslogiken entstehen, wechselseitig zu akzeptieren, um gemeinsam Politik zu gestalten. Wenn DIE LINKE bei ihrer Diskussion über Regierungsbeteiligungen sich diesem strategischen Problem stellen würde, statt sich wechselseitig durch einen »Tanz an roten Haltelinien« auf der einen Seite und der »Vergötzung angeblicher Regierungserfolge« (Tom Strohschneider) auf der anderen Seite zu blockieren, könnte sie ein gutes Stück weiter kommen.
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