Werbung

»Hier tun alle reden wie ich«

In Blumenau ist vieles noch traditionell deutsch - Public Viewing gehört nicht dazu

Während in der alten Heimat das Schland-Fieber grassiert, lassen es die Blumenauer gesittet angehen. Doch auch die brasilianischen Nachfahren deutscher Auswanderer drücken Deutschland die Daumen.

Manchmal, sagt Adilson Behling, darf man keine Kompromisse machen. Heute zum Beispiel. Um ein Uhr nachmittags spielt die deutsche Mannschaft in Recife und punkt 12 Uhr verlässt Adilson Behling seinen Arbeitsplatz im Biermuseum Blumenau, steigt in sein Auto und fährt die holprige Landstraße entlang des schmutzigbraunen Itajaí-Flusses nach Hause - in sein Heimatdorf Pommerode. Mit seiner Frau Carmen und Tochter Stefanie setzt er sich vor den Fernseher und sieht deutschen Fußballern zu, die gegen die US-Amerikaner mit ihrem deutschen Trainer Jürgen Klinsmann und dessen Berater Berti Vogts antreten, zwei einstige Bundestrainer.

Adilson Behling freut sich auf den WM-Tag mit dem höchsten Deutschlandfaktor. Er ist 43, Brasilianer und spricht wie einige tausend Menschen hier im Itajaí-Tal im südlichen Bundesstaat Santa Catarina jenen altertümlichen Dialekt, den die Vorfahren aus Hunsrück oder Schwarzwald vor mehr als 150 Jahren nach Brasilien mitgebracht haben. Adilson Behling spricht leise und schnell, fast murmelt er nur. Es sei eben kein Hochdeutsch, das er spreche: »Hier hats viele solche wie mich. Und alle tun reden wie ich - 100 Jahre altes Deutsch.« Behling legt den Kopf schief und sagt, beim Fußball seien seine Gefühle so geteilt wie sein Name. »Vorn Brasilien, hinten Deutschland. Ein richtiger Mischmasch.«

Ihre Existenz und auch den Namen verdankt die Stadt Blumenau dem Apotheker Herrmann Blumenau, der 1850 aus dem Harz hierherkam und mit sieben Kolonisten den Ort gründete. Schon um 1900 war Blumenau eine florierende Stadt, 1905 wurde an 87 Schulen auf Deutsch unterrichtet, an 17 anderen in Italienisch, nur an vier weiteren Schulen in Portugiesisch. Während des Zweiten Weltkrieges wurde Deutsch verboten, seither wird die Sprache in der 300 000-Einwohner-Stadt fast nur noch mündlich überliefert: »Lesen kann ich Deutsch nicht«, sagt Behling.

Dafür erzählt er den Besuchern Blumenaus Geschichten vom Bier, in Portugiesisch, Spanisch oder Deutsch. Von den Brauereien mit den deutschen Marken: Eisenbahn, Schornstein, Wunder, Bierbaum alle gebraut nach dem »Lei Alemã da Pureza de 1516«, dem deutschen Reinheitsgebot. Und vom Blumenauer Oktoberfest, dass seit 1983 zeitgleich zu dem in München gefeiert wird. 700 000 Menschen kommen jedes Jahr, es ist das größte Oktoberfest außerhalb Münchens und das größte Volksfest Brasiliens nach den Karnevalsumzügen von Rio de Janeiro und Salvador da Bahia.

Für ihr erstes Oktoberfest nutzte die Stadt makabrerweise die Popularität, die Blumenau durch die verheerende Überschwemmung des Rio Itajaí im Jahr 1983 erlangt hatte. Die Pegelstände des Flusses waren nach Regenfällen um 17 Meter gestiegen, das Hochwasser zerstörte Häuser und kostete etliche Todesopfer. Dennoch hielt die Stadtregierung in jenem Jahr an ihren Plänen fest und funktionierte das bis dahin abgehaltene Chopp-Fest (Fassbier-Fest) wie geplant in ein Oktoberfest um. Außerdem forcierte man den Bau von fachwerkartigen Bauten in der Innenstadt. Eine Erfolgsgeschichte: 30 Jahre später gehört das unscheinbare Blumenau zu den bekanntesten Reisezielen im Land.

Am Tag des Deutschlandspiels geht es in Blumenau gelassen zu, selbst in der Rua XV Novembro, der wichtigsten Einkaufsstraße. Früher »Wurststraße« steht auf dem Straßenschild der Rua, die Fachwerkbauten, allesamt in den letzten 40 Jahren errichtet, heißen »Bremen Zentner« oder »Haus Moellmann«. Brasilienfähnchen sind überall aufgehängt, die Copa ist willkommen in Blumenau. Oder? Vor der Prefeitura Municipal, dem berühmten Fachwerkrathaus, herrscht Unruhe. Eine Menschenmenge, 300 Leute vielleicht, dazu viele Transparente. Hat etwa auch Blumenau Anti-WM-Demos? »Nein, nein«, verrät Roberta Carvalho, 48, eine der Demonstrantinnen: »Wir sind einfach Lehrer, und wir fordern mehr Gehalt.«

In Blumenau gebe es heute 55 Schulen, sagt Roberta Carvalho. An 12 Blumenauer Schulen werde immer noch Deutsch angeboten. Sie selbst beherrsche die Sprache nicht mehr, obwohl sie sie als Kind noch erlernt habe. Heute könnten deutschsprachige Kinder manchmal sogar ein Problem darstellen, sagt sie: »Die Kinder kommen und können nur Deutsch, kein Portugiesisch.« Vor allem in Pommerode werde noch sehr auf das Deutsche Wert gelegt, auch beim Fußball: »Die Leute dort gehen in deutschen Trachten Fußball gucken! Bei jedem Tor lassen sie Raketen fliegen.«

Auf Blumenaus Oktoberfestgelände, dem Parque Vila Germânica, ist kurz vor Anpfiff des deutschen Spiels kaum ein Fan zu sehen. Allein in der »Biervila«, dem größten Bierlokal auf dem Gelände, sind vier bekennende Deutschlandfans erkennbar. Sie sitzen auf der Terrasse, drei kauzige Kerle mit langen Spitzbärten in weiß-schwarzen Trikots, dazu ein Mädchen in Schwarz. Allesamt um die 18, 19. Sie sehen ein wenig so aus, wie man sich Amok-Teenager an amerikanischen Highschools vorstellt. Typen, die nächtelang am Computer daddeln. Jungs, mit denen sonst keiner kann.

Schon bald nach dem Anpfiff erlischt aber auch ihr Interesse an den DFB-Fußballern in der »Biervila«. Die Schland-Fans bestellen sie sich »Eisbein« (frittiert) und »Schlachtplatte«, wobei sich beides als wenig passend erweisen soll angesichts des mauen Kicks. Dann sind die Schland-Teenager mit Kauen beschäftigt. Sie heben kaum noch den Blick auf den Bildschirm, aus dem zu hören ist, wie sich der Kommentator mit den Namen der Alemães abmüht: Loff, Merzake, Osiu, Kloß - so klingt DFB-Fußball auf Portugiesisch. Der Torjubel allerdings klingt universell: Gooooooool, Muuuuuhlleeeeer! Vier Deutschlandfans in Blumenau freuen sich, einer springt sogar kurz auf. Ansonsten bleibt die Fußballlaune an diesem deutschen Hotspot heute unterkühlt. Bis zum Abpfiff.

Adilson Behling vom Biermuseum wundert sich nicht, dass nur so wenige zum Fußballgucken aufs Oktoberfestgelände von Blumenau gekommen sind: »Ja, da kennt ich keinen wissen, der da hingehen tut«, sagt er. Der beliebteste Sport der Blumenauer und Pommeroder werde hier ja doch noch auf urdeutsche Art ausgetragen, verrät er: »Schießen im Schützenverein«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.