Verkehrt
Jirka Grahl quält sich über das Pflaster von Rio de Janeiro
Fußgänger sind in Rio de Janeiro arm dran - weniger Rechte als sie haben nur die Hunde, die an kurzer Leine über die schmalen Bürgersteige geführt werden. Doch alle, die es zur WM nach Rio verschlagen hat, lernen gezwungenermaßen sehr schnell, wie der einheimische Autofahrer tickt: Er probiert 1. immer wieder gern, bis auf wie viele Zentimeter er beim Bremsen aus voller Fahrt an einen erschrockenen Passanten herankommt. Er folgt 2. ungewöhnlichen Regeln, wenn er denn 3. überhaupt welchen folgt.
Da ist zum Beispiel die Ampelregel. Bei Rot wird gehalten ja, allerdings nur an großen Kreuzungen und auch das nur bei Tageslicht. Lieber weiterfahren als ausgeraubt werden, heißt die Begründung, die nicht nur an dunklen Favelaecken weidlich ausgenutzt wird, sondern selbst auf den großen Avenidas von Nord nach Süd. Nachts wird immerhin zur Warnung noch drei, vier Mal aufgeblendet - dann aber geht’s flott über die Kreuzung. Tagsüber wird auf Sicht gefahren. Fußgängerampeln haben generell den Status von nächtliche Kreuzungen - sie existieren nur zum Schein, egal bei welcher Tageszeit.
Die Rio-Blinkerregel besagt, dass Blinken nichts besagt, egal, wer es tut. Weniger ist hier mehr, im Gegensatz zur Rio-Hupregel, nach der bei jeder Gelegenheit gehupt wird, bevorzugt dort, wo sonst auch ein Blinkzeichen genügt hätte. Generell macht sich der Autofahrer gern bemerkbar - mit Hupen und mit Geschwindigkeit: Pé na tábua, Fuß aufs Brett, so sagt man hier. Selbst die Busfahrer brettern mit 70 km/h durch die engen Einbahnstraßen.
Die Carioca-Fußgänger, die wegen der überfüllten Straßen klar in der Mehrheit sind, haben sich gut angepasst. Sie wissen, dass Autos auf einer vierten Spur angerast kommen, wo auf dem Asphalt nur drei Spuren erkennbar sind. Sie passieren die Straßen kreuz und quer, nicht dort, wo es Übergänge gibt. Bei Rot bleib nicht stehn, bei Grün nicht einfach gehn! Und im Zweifel im Laufschritt, das ist die Faustregel. Es gilt der Verkehrsdarwinismus.
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