Geburtsstunde der Generation 2014
Brasilien nach Elfmeterschießen im Viertelfinale, Chilenen scheiden traurig, aber stolz aus
Belo Horizonte. Als die Angst vorbei war, als der Brocken Chile nach einem hitzigen Match im Estádio Mineirão von Belo Horizonte tatsächlich aus dem Weg zum sechsten Titel geräumt war, seufzte Brasiliens Trainer Felipe Scolari kurz. Dann erklärte er den Journalisten noch einmal, was eine Achtelfinalniederlage gegen Chile bedeutet hätte, ja, er nannte sogar schon den Begriff, unter dem eine Niederlage künftig einsortiert worden wäre. »Ihr hättet doch fortan nur noch von einem Mineiraço geschrieben, wenn wir verloren hätten«, sagte Scolari, »kein Zweifel.«
Der Portugiese hatte Recht: So eine Analogie zur traumatischen Niederlage im letzten Spiel der WM 1950 im Maracanã-Stadion, genannt Maracanaço, hatte tatsächlich schon vor dem Anpfiff auf Twitter die Runde gemacht.
Ein Trauma indes blieb Brasilien erspart, etwas viel Größeres hingegen war entstanden. Der lange und nervenaufreibende Achtelfinalnachmittag brachte nicht nur jenes tosende Happy End, das sich ein Großteil der 57 714 Zuschauer gewünscht hatten. Der Sieg im Elfmeterschießen mit 4:3 (3:2 i.E., 1:1, 1:1) war nicht nur die Bestätigung für 200 Millionen Brasilianer, dass sie ihr Herz der richtigen Mannschaft geschenkt haben. Der Sieg gegen die tapferen Chilenen war vor allem so etwas wie eine Geburtsstunde der Generation 2014. Dieser Seleção vom Samstagnachmittag ist tatsächlich zuzutrauen, das Endspiel in zwei Wochen zu erreichen. Noch vor dem Spiel hatten in dieser Hinsicht trotz drei Siegen ernsthafte Zweifel bestanden.
Für die Auferstehung konnte es kaum einen geeigneteren Ort geben als Belo Horizonte. Die 2,3-Millionen-Stadt darf sich derzeit als die Fußballhaupstadt des Landes fühlen. Im Mineirão-Stadion gewann Atletico Mineiro die letzte Copa Libertadores, die Champions League Südamerikas. Und Cruzeiro, der zweite große Klub der Stadt, ist Brasiliens amtierender Meister. Allein der erneute Ausfall von Brasiliens kritisiertem Stürmer Fred, der in Belo Horizonte einst seine Karriere begonnen hatte, wollte nicht recht ins Bild passen. Als Fred in der zweiten Halbzeit ausgewechselt wurde, pfiff ihn das ganze Stadion aus.
Posterboy Neymar dagegen erfüllte alle Hoffnungen. Vor allem in der ersten Halbzeit, als die Seleção die Chilenen mit Tempospiel und großer Härte zu beeindrucken versuchten, konnte sich der 22-Jährige hervortun. Und noch einmal entscheidend nach 120 Minuten, als er den letzten Elfmeter der Brasilianer zu schießen hatte: zwei Schritte, Pause, noch ein Schritt - Tor. Chile musste nachziehen. Gonzalo Jara, der an der Reihe war, lief an. Als sein Ball vom Pfosten zurückprallte, blieb er noch für einen Moment ungläubig stehen, als könnte er nicht glauben, dass dieses Spiel wirklich vorbei war. Der ohrenbetäubende Lärm war allerdings Bestätigung genug. Jara sank zu Boden und weinte.
Die Seleção-Spieler hingegen tanzten und feierten ihren Torwart. Julio Cesar hatte gleich zwei Elfmeter gehalten und damit ein Trauma beendet. Dem Mann vom FC Toronto war 2010 Brasiliens WM-Aus angelastet worden. Seine Glanztaten im Elfmeterschießen von 2014 beschrieb er denn auch als eine Befreiung: »Ich war vier Jahre lang als Buhmann gebrandmarkt. Dieses Spiel hat mir sehr, sehr gut getan.«
Die Chilenen hingegen fahren nach Hause, traurig, aber stolz. Sie hatten Brasilien in einer verrückten Partie an den Rand einer Niederlage getrieben. Noch in der 120. Minute hatten sie die Chance zum Sieg. Doch der eingewechselte Mauricio Pinilla traf nach einem Konter Sekunden vor dem Abpfiff nur die Latte.
Chiles argentinischer Trainer Jorge Sampaoli trauerte nicht allzu sehr: »Wir haben alles riskiert und wunderbar gespielt.« Er erinnerte daran, welche Teams die Chilenen bei dieser WM in Schach gehalten hatten: die Spanier, die Holländer, auch die Brasilianer. »Doch es gibt eben keine moralischen Sieger, das zählt alles nichts.«
Ob er glaube, gegen den künftigen Weltmeister verloren zu haben? Sampaoli umschiffte die Frage lieber: »Wir jedenfalls hatten Brasilien im Griff, weil wir Neymar im Griff hatten. Er kam kaum dazu, etwas zu kreieren.«
Neymar soll nun am Freitag wieder kreieren. Im Viertelfinale von Fortaleza, wenn es im nächsten Südamerikaduell gegen Kolumbien geht. Seit Samstag sind die Brasilianer festen Glaubens, dass aus diesem Match kein Fortalezaço wird.
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