... abgesehen vom großen Versprechen
Joachim Löw muss sich nach dem mühsamen Viertelfinaleinzug hinterfragen
Noch einen Rotwein, und dann ab ins Bett. Nach der gut vierstündigen Reise von Porto Alegre ins deutsche WM-Quartier Campo Bahia gönnte sich Joachim Löw noch sein obligatorisches Gläschen vor dem Schlafengehen. Die erholsame Nachtruhe hatten der Bundestrainer und seine Spieler auch bitter nötig. 120 Minuten - auf dem Platz kräfteraubender, auf der Bank nervenzerreißender - Fußball hatten sichtbare Spuren hinterlassen. Im Estadio Beira-Rio konnte sich die DFB-Elf erst in der Verlängerung gegen Algerien durchsetzen.
Die Ruhe währte nicht lange. Dem einen oder anderen dürfte nach einer kurzen Nacht am Dienstagmorgen der Schreck in die Glieder gefahren sein, Per Mertesacker mit Sicherheit. Sein Interview nach Spielende ist über Nacht im Internet zum Hit geworden: Über 300.000 Mal lief Mertesackers Gegenfrage (»Was woll’n Sie jetzt von mir?«) an Boris Büchler schon auf dem Videoportal Youtube. Dabei hatte der ZDF-Reporter nur wissen wollen, was die deutsche Nationalmannschaft im Viertelfinale am kommenden Freitag gegen Frankreich besser machen müsse. Auf Büchlers Frage, warum das Spiel der DFB-Elf so schwerfällig und die Defensive so anfällig gewesen sei, antwortete Mertesacker: »Is mir völlig wurscht. Wir sind jetzt unter den letzten Acht, nur das zählt.«
Natürlich, die Algerier haben unglaublich gut gespielt. Sie haben taktisch hervorragend verteidigt, indem sie durch konsequentes Verschieben Lauf- und Passwege der Deutschen permanent zugestellt haben. Sie haben den gegnerischen Spielaufbau durch geschicktes Pressing immer wieder abgewürgt. Und sie haben ihr Konterspiel mit präzisen und schnellen Pässen fast perfektioniert, und die deutsche Abwehr damit zu oft in große Verlegenheit gestürzt.
Aber sind deshalb kritische Fragen zur eigenen Leistung nicht erlaubt? Wer diese mit dem Hinweis auf den Gegner als respektlos abtut, macht es sich viel zu einfach. Derlei reflexhafte Entschuldigungen erinnern an Zeiten des Rumpelfußballs, seitdem es laut Rudi Völler bekanntlich ja »keine Kleinen« mehr im Fußball gibt. Den Bogen von Ex-Teamchef Völler zum jetzigen Bundestrainer Joachim Löw zu spannen, tut weh. Aber der Auftritt gegen Algerien, vor allem in der ersten Halbzeit, erinnerte stark an das ziellose und uninspirierte Ballgeschiebe von einst. Und daran trägt Löw die Hauptschuld.
Kurz aber noch mal zurück zu Mertesacker. »Ich lege mich jetzt drei Tage in die Eistonne«, war das Beste, was der Innenverteidiger von Arsenal London am Montagabend zu sagen hatte. Ja, er braucht Ruhe und Regeneration, vor allem aber eine Abkühlung. Denn es gab auch ganz andere Interviews. Manuel Neuer zum Beispiel, dem nach der Partie nicht nur als Torwart im Sechzehnmeterraum, sondern auch als Ausputzer im Feld von Abwehrfehlern seiner Vorderleute eine Weltklasseleistung bescheinigt wurde, analysierte das Spiel professionell. Er kritisierte die vielen Ballverluste und das viel zu langsame Spiel nach vorn. Ausflüchte suchte Neuer nicht, denn er war mit seiner Leistung zufrieden. Hoffentlich ganz im Gegensatz zu Per Mertesacker. Der Auftritt gegen Algerien war sein bislang schlechtester bei dieser Weltmeisterschaft: unsicher am Ball, langsam auf den Beinen und manchmal auch im Kopf, fehlerhaft in Stellungsspiel und Zweikampf und katastrophal im Spielaufbau.
Die Kritik an Mertesacker führt nun direkt zu Joachim Löw. »Muss ich jetzt nach dem Weiterkommen unter die letzten Acht stark enttäuscht sein?«, fragte er. Nein, abgesehen vom großen Versprechen, auch bei der Titelmission in Brasilien wieder begeisternden und mitreißenden Offensivfußball spielen zu lassen, kann der Bundestrainer den Viertelfinaleinzug als Erfolg verbuchen. Richtig jubeln konnte er selbst nach den späten Treffern von André Schürrle und Mesut Özil in der Verlängerung aber auch nicht. Seine versteinerten Gesichtszüge während des Spiels hatten sich nach dem Abpfiff kaum gelockert.
Weil er einerseits ganz offensichtlich nicht zufrieden war mit dem Spiel seiner Mannschaft. Und weil er sich andererseits eines Besseren hat belehren lassen müssen? Weil sein Plan, die Viererkette in der Defensive mit vier Innenverteidigerin zu besetzen, erneut nicht aufgegangen war? »In der zweiten Halbzeit und vor allem in der Verlängerung waren wir am Drücker«, hatte Löw richtig beobachtet. Und er weiß mit Sicherheit auch, warum. Ihm blieb nach der Verletzung von Shkodran Mustafi nach 70 Minuten nichts anderes übrig, als Philipp Lahm aus dem Mittelfeld auf die Rechtsverteidigerposition zu beordern. Dahin, wo der weltbeste Außenverteidiger hingehört. Das Spiel lief besser: nach vorn mit viel mehr Druck, in der Abwehr sehr viel sicherer. Selbst wenn man, wie Löw bei der WM, die Außenverteidiger gar nicht so sehr ins Offensivspiel einbeziehen will, reicht es aber trotzdem nicht, nur ein gelernter Zweikämpfer zu sein. Das Gefühl für Raum und Gegner braucht man auch, und es ist ein ganz anderes als in der Innenverteidigung.
Es ist an der Zeit, dass Löw sein Versprechen einlöst - dass der versprochenen Flexibilität, entgegen aller persönlichen Eitelkeiten. Also: Philipp Lahm zurück in die Viererkette, und vielleicht auch den auf den Außenbahnen stets blassen Mesut Özil ins offensive Mittelfeldzentrum stellen.
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