Platzangst im Ruhr-Parlament

Die neue Regionalversammlung wird wohl 160 statt 71 Mitglieder haben - mindestens

  • Marcus Meier
  • Lesedauer: 4 Min.
Weil mutmaßlich drei FDPler im Kreistag Recklinghausen einen Rechtspopulisten ins Ruhrparlament wählten, wird es dort wohl 90 Ausgleichsmandate geben. Auch die rot-grüne Mehrheit wäre dahin.

Zur populären Veranschaulichung der Chaostheorie wird bisher der fiktive brasilianische Schmetterling angeführt, der mit seinem Flügelschlag einen Orkan in Texas auslöst. Doch möglicherweise wird der Schmetterlingseffekt bald out sein, fällt er doch weit hinter das Recklinghausen-Phänomen zurück. Statt 71 wird das Ruhrparlament, also die Versammlung des Regionalverbandes Ruhr (RVR), in dem 53 Ruhrgebietsstädte mehr oder minder miteinander kooperieren, bald wohl über 160 Mitglieder haben. Wenn denn alles halbwegs glimpflich abgeht.

Die enorme Aufblähung der »regionalen Klammer der Metropole Ruhr« (Eigenwerbung) mit Sitz in Essen erklärt sich durch Ausgleichsmandate. Die werden nötig, weil im Kreistag Recklinghausen ein Vertreter der »Unabhängigen Bürgerpartei« mit drei eigenen und eben so vielen fremden Stimmen in das Ruhrparlament entsandt wurde. Die UBP ist zu allem Überfluss rechtspopulistisch, entscheidend ist in diesem Fall aber ein anderes Faktum: Sie trat nur in diesem einen Kreis an und erzielte dabei ein Ergebnis von 0,6 Prozent.

Wenn aber dermaßen wenige Wähler-Stimmen für einen Sitz im Ruhrparlament reichen, dann erhalten die anderen Fraktionen im Gegenzug zusätzliche Mandate. Einen solchen »Verhältnisausgleich« schreibt das RVR-Gesetz vor. Die genaue Zahl wird erst im August bekannt, wenn der letzte Ruhrparlamentarier gewählt sein wird.

Doch schon heute ist klar: Insbesondere die Reserveliste der SPD und damit die Zahl potenzieller Nachrücker ist viel zu klein, um den Bedarf decken zu können. Nur 19 statt - nach jetziger Rechnung - 37 Sozialdemokraten könnten nachrücken. Mancher Stuhl in der Versammlung des Zweckverbandes RVR, der sich um Themen wie Regionalplanung, Wirtschaftsförderung und Tourismus kümmert, wird also leer bleiben müssen. Die Folge: eine tektonische Verschiebung. Die rot-grüne Mehrheit im Ruhrparlament wäre dahin und die CDU plötzlich stärkste Fraktion - dank der längeren Reserveliste. »Damit wird der Wählerwille verfälscht und für den Steuerzahler fallen Mehrkosten in Höhe von rund sechseinhalb Millionen Euro an«, ärgert sich Wolfgang Freye, Chef der Linksfraktion im Ruhrparlament. Der Essener fordert eine verfassungsrechtliche Prüfung des bisherigen Wahlprozederes. Eine entsprechende Klage wäre wohl nicht völlig aussichtslos, das geht aus einem internen Schreiben der RVR-Verwaltung hervor.

Und all das Theater wegen eines einzigen Rechtspopulisten. Die Sitzung des Kreistages Recklinghausen, auf der der UBP-Mann am Montagabend in das Regionalparlament gewählt wurde, begann bereits kurios: Die hochbetagte Alterspräsidentin (CDU) begrüßte freudig den Landrat Helmut Marmulla, der SPD-Politiker war allerdings bereits 1997 verstorben. Es folgte eine Sitzung voller Tricksereien und undurchsichtiger Absprachen, wenn man dem Bericht des LINKE-Kreisrats Ralf Michalowsky Glauben schenkt.

Dann folgte die Überraschung: sechs statt drei Stimmen für die UBP. Michalowsky vermutet wegen des konkreten Abstimmungsergebnisses einen Deal zwischen FDP und UBP, die Liberalen verfügen in der Tat über drei Sitze im Recklinghausener Kreistag. »Auf den immer wieder beschworenen Konsens, die UBP niemals zu unterstützen, pfeifen einige wohl inzwischen«, resümiert der LINKE-Politiker.

Ausgerechnet ein FDP-Mann brüstet sich derweil damit, die Gefahr als Erster erkannt zu haben. »Wir haben schon im letzten Jahr vor dieser möglichen Situation gewarnt«, verlautbart der Landtagsabgeordnete Thomas Nückel. Jahre lang habe der Landtag über eine Reform des RVR-Gesetzes debattiert. Doch die rot-grüne Mehrheit habe »zu lange an eigenen Versorgungstürmen« gebastelt. So werde die Demokratie der Lächerlichkeit preisgegeben, ist Nückel sich sicher.

Der Vize-Vorsitzende der grünen Landtagsfraktion sieht das anders. »Herr Nückel befindet sich mal wieder auf Abwegen«, befindet Mehrdad Mostofizadeh. Nicht das Wahlsystem sei das Problem, sondern fragwürdige Absprachen vor Ort. »Im Kreistag von Recklinghausen haben offensichtlich einige Demokraten der rechtspopulistischen UBP das Ticket für den RVR verschafft, das sie aus eigener Kraft nicht hätte erringen können.«

Schon herrscht das große Zittern, dass auch ein Vertreter der 1515 Wählerstimmen starken »Freien Bürgerinitiative« (FBI) aus Dortmund in das Ruhrparlament entsandt werden könnte. Dann würde die Versammlung auf knapp 1200 Mitglieder aufgebläht. Zum Vergleich: Der Nationale Volkskongress Chinas umfasst 2987 Abgeordnete. Aber das Reich der Mitte ist auch ein wenig größer als der Ruhrpott.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!