An Versprechungen glaubt längst keiner mehr

Fünf Tage in der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule. Ein exklusives Protokoll

  • Marc Meillassoux
  • Lesedauer: 6 Min.
Den Alltag in der Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg, wo Flüchtlinge und Unterstützer zusammen ausharren, hat unser Autor, ein französischer Journalist, fünf Tage lang als einziger Berichterstatter in der Schule miterlebt.

Als mir eine Aktivistin von der Schule am 19. Juni ankündigte, dass die Gerhart-Hauptmann-Schule jederzeit geräumt werden könnte, war mir unangenehm zumute. Ich hatte dort zwar schon zwei Tagen verbracht und versucht, die Geschichte von diesen 200 Flüchtlingen in Frankreich zu thematisieren - aber ich hatte Besuch aus Frankreich und außerdem am Sonntag einen Theatertermin. Und freilich war es anstrengend, in der Gerhart-Hauptmann-Schule auszuharren. Das aber hätte ich gegenüber der Aktivistin nicht vertreten können. Also habe ich mich entschlossen, einfach nicht zu antworten.

Zum Glück ist an diesem Wochenende nichts passiert, und am Montag, dem 23. Juni, waren »meine« Flüchtlinge alle noch da. Ich bin zurück in den ersten Stock im rechten Flügel des Gebäudes gezogen. Die Libyer und Tschader dort waren von Anfang an höflich zu mir, aber auch misstrauisch. Journalisten mögen sie nicht immer so gern. »Außer einigen kommen die meisten für ein paar Stunden hierher, treten in die Zimmer, machen Fotos und schnelle Interviews. Kaum einer meldet sich wieder«, sagt Mohamed aus dem Tschad.

Originaltöne von Flüchtlingen

Saïd*: 22, aus Libyen

Saïd ist nach dem Krieg in Libyen im Jahr 2011 wie andere Bewohner der Schule aus Libyen, Tschad, Sudan oder Niger nach Europa über die italienische Mittelmeer-Insel Lampedusa geflüchtet. Er hat versucht nach Norwegen einzuwandern, wurde aber in Norddeutschland von der Polizei festgenommen. Saïd fällt es immer noch sehr schwer, über seine Geschichte zu sprechen. »Ohne den Sturz von Muammar al-Gaddafi, der viel Geld in die Wirtschaft gesteckt hat, wären ganz viele Afrikaner nicht hierhergekommen«, sagt er. Der Flüchtling aus Libyen wurde selbst bei einem Luftangriff der NATO verletzt. Weil er auf der Liste von Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) steht, gilt für Saïd die Oranienplatz-Vereinbarung, in dem eine Einzelfallprüfung zugesichert wurde. Als einer der Ersten von der Kolat-Liste hat Saïd einen Brief mit der Abschiebungsankündigung bekommen. mm
*Name geändert

Myriam, 36, aus Kenia

Myriam, alias »Sista Mimi«, ist seit über 17 Jahren in Deutschland. Sie ist Musikerin und DJ. Über sich selbst spricht die Künstlerin eher selten, gerne regt sie sich aber auf: über die miesen Lebensbedingungen in der Gerhart-Hauptmann-Schule etwa oder den Rassismus gegen Schwarze. Kritisiert werden von Mimi auch gerne Politiker. Wegen ihres unleugbaren Szenetalents kennt und respektiert jeder in der Schule die 36-Jährige. Als am Dienstag vergangener Woche die »friedliche Räumung« begann, legte sich Mimi mit einer ganzen Abteilung der Polizei an. »Guck mal, Deine Uniform ist zu groß oder vielleicht bist Du zu klein?«, machte sie sich über einen Polizisten lustig. Die Kollegen des Beamten lachten darüber. Dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele (Grüne) warf sie vor, dass Deutschland 17 Panzer nach Algerien exportiert habe. »Solange ihr so was tut, werden wir kommen«, sagt sie. mm

Imad*, aus Sudan

Imad ist bereits im Jahr 2009 über Lampedusa eingewandert. Im italienischen Gewahrsam musste er seine Fingerabdrücke abgegeben. Zwei Wochen später erhielt er einen »Zwischenaufenthaltsschein«. Da er in Italien aufgrund der schlechten Wirtschaftslage keine Perspektive sah, versuchte Imad zwei Mal nach Großbritannien zu gelangen. Nach Aufenthalten in Angers und Clermont-Ferrand in Frankreich sollte es dann nach Schweden gehen. Auch das klappte nicht. Vier Mal wurde der Sudanese festgenommen. Danach folgte er dem Rat der Behörden, ein Asylgesuch in Deutschland zu stellen. Nach einem Jahr erhielt er einen Ablehnungsbescheid: Sein Land, der Sudan, heißt es, »sei nicht gefährlich«. Imad bekommt lediglich eine Duldung. »Damit kannst du nichts machen: weder arbeiten, noch studieren oder Wohnung suchen«, sagt er. »Selbst deine Kinder dürfen ohne Bezahlung nicht zur Schule.« mm
´*Name geändert

Nasrredine, Sudan

Nasrredine lebt seit anderthalb Jahre in der Schule. Der Sudanese war auch am Oranienplatz aktiv. Ihn umgibt eine Aura: Die schleppende Stimme, der Röntgenblick sowie der Bart wirken auf seine Gesprächspartner. Nasrredine betont seit Tagen: »Wir wollen nicht mehr reden, wir sind bereit zu sterben.« Und falls die Polizei angreifen sollte, droht er das Haus anzuzünden oder gar zu sprengen. Zwar riecht es in dem Gebäude nach Gas und außerdem hat die Polizei angeblich zwei Molotowcocktails fotografiert. Die meisten in der Schule sagen jedoch, was Nasrredine sagt, sei nur Bluff. Denn meistens ist der Sudanese sehr lieb zu den anderen. Aber bei einem besonders angespannten Treffen der Flüchtlinge mit dem Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele am vergangenen Sonnabend hatte Nasrredine einen Ausbruch. Der Autor dieser Zeilen bezahlte das mit dem Rauswurf aus der Schule - ohne seine Notizen. mm

Am Dienstag danach um 13.30 Uhr ruft mich eine Kollegin an. »Es wird gleich geräumt.« Als ich ankomme, gibt es vor Ort ein paar Journalisten - von »Tagesspiegel«, »Süddeutsche Zeitung Magazin« und dem rbb. Ich treffe Ali aus Libyen, mit dem ich am Montag schlechten Wodka getrunken und über die Konflikte in seinem Land gesprochen habe. Er trägt drei schwere Koffer. Seine Augen sind hinter einer Sonnenbrille versteckt. Auf Fragen reagiert er nur wenig.

Langsam sammeln sich die letzten Flüchtlinge in der Aula der ehemaligen Schule. Die Aula hat etwas Besonderes, sie wirkt gigantisch und dramatisch zugleich. Wahrscheinlich gab es hier früher wunderschöne Schülervorstellungen.

In der vierten Etage kann man auf einen Stuhl steigen und dann auf das Dach klettern. Da wird ständig eine Gruppe bleiben, falls irgend etwas passiert. Polizisten beobachten uns von zwei anderen Dächern mit dem Fernglas. »Sista Mimi« (s. Porträt) zeigt ihre Show und macht sich über die »Bullen« lustig. Der Bezirk ist von von 1720 Polizisten abgeriegelt.

In der Aula trifft bald der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele (Grüne) ein, er sieht immer ein bisschen angestrengt aus. Alle sprechen ihn gleichzeitig an, nicht immer so höflich, wie er es gewöhnt ist. Er wird ab jetzt häufiger die Verhandlungen mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg moderieren. Ein Flüchtling erklärt ihm ganz klar: »Wir verlassen dieses Gebäude nicht ohne Papiere.« Eine andere fügt hinzu: »Wenn die Polizei reinkommt, fordert es Menschenleben.«

Das grüne Mitglied des Abgeordnetenhauses Canan Bayram ist auch da. Sie kommt jeden Tag und scheint sich ehrlich Sorgen zu machen. Sie genießt bei den Flüchtlingen Vertrauen.

Auf dem Dach haben die Flüchtlinge ein Soundsystem aufgebaut, um mit den Unterstützern von der Reichenberger Straße Kontakt aufzunehmen. Das erste Telefongespräch auf Lautsprecher übertragen erfreut die Flüchtlinge. »Hör doch Leute, da sind hunderte Leute für uns!«, begeistert sich einer. Die Menge draußen klatscht und schreit.

Solidarische Stimmung, spontane Ausbrüche

Die Besetzer sammeln das Essen in einem Zimmer neben der Aula. Wir schätzen, dass es für zwei Tage Vorrat sind. Die Kirche wird in den nächsten Tagen dafür sorgen, dass wir täglich Lebensmittel, Medikamente und Tabakwaren bekommen.

Die Journalisten sind am Mittwoch alle weg und dürfen nicht mehr rein. Eine Unterstützerin bittet mich, im Haus zu bleiben. »Du bist Franzose, du bist Journalist, dein Leben hat mehr Wert«, lächelt ein Flüchtling. Der Tag geht vorüber. Spät abends kocht Annu: Mafé und eine Speise mit Mais oder Maniokteig. Er hat manchmal am Oranienplatz für 150 Leute aus dem Flüchtlingscamp gekocht.

An jedem von den vier Abenden, die ich da verbracht habe, hat sich die Stimmung beim Abendessen deutlich entspannt. Die Angst vor einer Räumung war aber immer zu spüren. Denn während der Nacht ist eine Räumung wesentlich gefährlicher, am Tag gibt’s viele Proteste draußen. Das wahrscheinlichste Szenario wäre im Morgenrot, befürchten die Flüchtlinge.

Mit Bezirk und Senat sind die Verhandlungen schwer. Die Flüchtlinge fordern ein Flüchtlingszentrum in der Schule, sie wollen, dass die Polizei den Reiche-Kiez verlässt und Aufenthaltspapiere für alle ausgegeben werden.

Das Treffen im Hof der Schule am Donnerstag ist besonders angespannt. Nasreddine (s. Porträt), erschöpft und nervös, droht erneut, die Schule anzuzünden. Der Stadtrat Hans Panhoff (Grüne), verantwortlich für die Schule, filmt das ganze Gespräch und fragt danach, ob Nasreddine sein Statement vor der Kamera wiederholen würde. Der Bezirk wird das Statement als Beleg für angeblich »gefährliche Zustände« benutzen, um die Presse nicht reinzulassen.

Bei der Pressekonferenz auf der Straße am Freitag werden der Koch Annu, Adam und ein dritter Sudanese die Lage beruhigen und zu vermitteln versuchen. Sie erklären aber auch noch einmal ihre Forderungen nach einem Bleiberecht. Der Senat will seinerseits immer noch keine Aufenthaltspapiere geben und hängt fest an seinem Angebot: Einzelverfahren prüfen, die Flüchtlinge an einen »sicheren Ort« verlegen. Das ist für die Flüchtlinge nicht ausreichend. Es gibt weiter keine Lösung.

Viele sagen, sie hätten nichts mehr zu verlieren

Eine gemeinsame Stimme ist schwer in der Gerhart-Hauptmann-Schule zu finden. Es gibt unterschiedliche Gruppen sowie verschiedene Meinungen, was die richtige Strategie wäre, um die Forderungen durchzusetzen. Einige bleiben einfach in ihren Zimmern und warten ab, andere sitzen hauptsächlich in der Aula und diskutieren über politische Lösungen. Eine dritte Gruppe hat »keine Lust mehr zu reden«. Sie haben es mehrmals wiederholt: Entweder sie bekommen ihren Aufenthalt oder sie werden vom Dach springen.

Zwischen den Besetzern der Schule ist die Stimmung unterschiedlich. Alle sind solidarisch - alles wird verteilt -, aber manchmal brechen die Emotionen plötzlich für einige Minuten stark aus. Manche Flüchtlinge beschweren sich, dass zu viel auf Deutsch verhandelt wird. Man spürt auch eine Kluft zwischen Unterstützern und Politikern (Grüne, LINKE, Piraten) einerseits und Flüchtlingen andererseits. Die ersten unterstützen großzügig oder suchen ehrlich eine politische Lösung, Unterstützer legen großen Wert auf Abstimmungen via Handzeichen. Im Gegensatz zu den Flüchtlingen ist ihre Existenz draußen gesichert. Die Flüchtlinge glauben oft nicht mehr an die Versprechen, und für manche ist Suizid offenbar eine ernste Möglichkeit.

Manche Flüchtlinge sind auch psychisch am Ende. Die Untätigkeit - keiner darf eine Arbeit oder eine Wohnung suchen - und die unendliche Wiederholung des Tagesablaufs hat bei einigen Spuren hinterlassen. Mehrere können nicht einmal mehr sagen, seit wann sie in der Schule sind - »ein Jahr, zwei vielleicht«, mutmaßen sie.

Die Lebensumstände und besonders die Hygienebedingungen verschlimmern diese Situation. Ich habe in der Schule zweimal »geduscht«. In den Toiletten vom zweiten Stock. Lies, ein über 20-jähriger Mann aus Marokko, hat mir einen großen Topf mit warmem Wasser und sein Adidas-Duschgel gegeben. Es roch stark und schlecht. Zwei Toiletten sind verstopft und das Wasser von der Dusche fließt nicht mehr ab. Das Risiko von Verseuchung ist groß. In dieser Situation stoßen die Leute schnell an ihre Grenzen. Viele sagen, sie wollen das nicht mehr ertragen und hätten nichts mehr zu verlieren.

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