»Die Palästinenser werden allein gelassen«

Die international bekannte Anwältin Felicia Langer fordert mehr Druck auf Israel für ein Ende des Gaza-Krieges

  • Lesedauer: 5 Min.
Felicia-Amalia Langer wurde 1930 als Kind jüdischer Eltern in Tarnów (Polen) geboren. Die meisten Familienmitglieder fielen der Shoah zum Opfer. Ab 1950 in Israel lebend, ist sie seit den 70er Jahren eine international bekannte Rechtsanwältin. Trotz massiver Anfeindungen verteidigte sie als erste israelische Anwältin Palästinenser aus den 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebieten vor israelischen Militärgerichten. Seit 1990 besitzt Langer auch die deutsche Staatsbürgerschaft und lebt in Tübingen. Sie ist Trägerin des Alternativen Nobelpreises und des Bundesverdienstkreuzes. Mit ihr sprach für »nd« Marlene Göring.

nd: Frau Langer, was empfinden Sie, wenn Sie die derzeitigen Bilder aus Gaza und Israel sehen?
Langer: Ich bin so verzweifelt und wütend, das ist schwer zu beschreiben. Wenn ich die Kinder sehe, wenn ich die alten Leute sehe, wenn ich die vielen Toten sehe: Das ist doch eine Schande!

Man sagt, jetzt sind es schon 700 und mehr palästinensische Tote in Gaza. Zwei Drittel davon sind Unbeteiligte. Und es sind so viele Kinder unter ihnen, weil es dort so viele Kinder gibt. Ich glaube, dass diese schreckliche Politik Israels am Ende nur Hass schürt. Warum? Ich denke, es war die Verständigung zwischen Fatah und Hamas auf eine Einheitsregierung. Das wollte und will Israel nicht akzeptieren.

Was sagen Sie zu den internationalen Reaktionen? Sind die angemessen?
Sie sind sehr mild und nicht hilfreich, es ist im Grunde gar nichts passiert. Israel begeht Kriegsverbrechen in Gaza. Seine Armee attackiert Zivilisten, zerstört Häuser. Das ist nicht nur eine Schande, das ist gegen die Genfer Konvention, das ist gegen UNO-Resolutionen, das ist gegen alles. Aber die Welt versteht nicht, dass das Völkermord ist. Ich bezeichne das auf meinem Palästina-Portal als Völkermord im Ghetto.

Schon sieben Jahre leiden die Menschen in Gaza unter der Blockade - und wie sie leiden! 80 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze. 90 Prozent des vorhandenen Wassers sind nicht trinkbar. Gaza ist das größte Freiluftgefängnis in der Welt. Ich möchte dazu gern John Ging zitieren, den irischen Chef des UNO-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge: »Gaza ist zum Synonym für Verletzungen des internationalen Rechts und der Unmenschlichkeit gegen eine Zivilbevölkerung geworden«. Und das ist nicht von heute, das sagte er vor einem Jahr.

Jeder westliche Politiker trägt hier eine Mitverantwortung. Die sehe ich auch bei Frau Merkel, die als mächtigste Frau der Welt gilt. Sie hat die Bodenoffensive gebilligt und kein Wort des Bedauern über die zahlreichen zivilen Opfer, die getöteten Kinder in Gaza geäußert. Wo sind ihre menschlichen Gefühle?

Was sagen Sie zur Hamas, die ihre Raketen aus Wohngebieten abschießt?
Ich bin gegen Raketen, ich bin überhaupt gegen die Verletzung oder Tötung von Zivilisten. Ich habe als Anwältin ausschließlich Menschen verteidigt, die an solchen Aktionen nicht beteiligt waren. Aber verstehen Sie bitte: Hier geht es auch um 47 Jahre Besatzung. All die völkerrechtswidrigen Maßnahmen, die Besiedlung der besetzten Gebiete, ein repressives Apartheidregime sind für die Gewaltspirale mitverantwortlich. Der größte Faktor von Unruhe und Gewalt ist die Besatzung. Sie produziert letztlich auch diesen Raketenbeschuss, den Sie zu Recht verurteilen.

Es ist ein Vernichtungskrieg, was Israelis jetzt in Gaza machen. Es tut sehr weh, das zu sagen, aber genau das tun sie. Wir haben in Israel eine Knesset-Abgeordnete, Ajelet Schaked von der Regierungspartei Beit Yehudi (Jüdisches Haus). Sie hat gesagt: »Das ganze palästinensische Volk ist der Feind. Auch palästinensische Mütter müssen getötet werden, denn sie gebären kleine Schlangen.« Das hat diese Frau auf ihrem Blog platziert.

Aber wir haben auch Friedensbewegte. Ich kann nicht von einer Friedensbewegung sprechen, weil das momentan leider nicht der Fall ist. Aber es gibt viele friedensbewegte Leute, die gegen diesen Krieg sind. Aber man behandelt sie jetzt sehr schlimm. Jedes Wort gegen diesen Krieg gilt als Verrat.

Wie aber kann sich Israel schützen, wenn es aus Gaza mit Raketen beschossen wird?
Der beste Schutz für Israel ist Frieden, Frieden zu schaffen. Ohne Frieden wird man keine sichere Zukunft haben. Israel hat schon seit Jahren die Möglichkeit, Frieden zu schaffen. Die PLO hat Israel anerkannt und die PLO ist für die Zwei-Staaten-Lösung. Die Hamas hat gesagt, dass auch sie der Zwei-Staaten-Lösung zustimmt, wenn die palästinensische Bevölkerung Ja sagt. Diese Annäherung an die Fatah ist eine sehr positive Sache.

Aber Israel hat das alles abgelehnt und die ganze Zeit weiter Siedlungen gebaut. Es gibt jetzt 600 000 Siedler in den besetzten Gebieten, das sind 22 Prozent von Palästina. Und das ist alles völkerrechtswidrig. Die Besiedlung besetzter Gebiete ist verboten. Das ist ein Kriegsverbrechen, aber Israel kann sich das leisten. Und warum? Wir sind Holocaust-Überlebende, ich und mein Mann. Und man instrumentalisiert den Israel-Holocaust für diese Kriegstreiberei. Ich stehe zu dieser Aussage, wie mein Mann, der in fünf Nazi-Lagern war. Am 8. Mai 1945 ist er in Theresienstadt befreit worden. Wir haben unsere ganzen Familien verloren. Aber wir haben gelernt, Menschlichkeit zu bewahren.

Sehen Sie denn eine Lösung?
Ja, sicherlich gibt es einen Ausweg. Aber ohne Druck auf Israel, die Politik zu ändern, wird gar nichts passieren. Wirklichen Frieden kann man nur haben, wenn man die Rechte der anderen Seite respektiert.

Was müsste passieren, um den Konflikt zu lösen? Welche Schritte müsste man gehen?
Welche Schritte? Man muss Israel klar machen, dass es so nicht weiter geht. Sie wissen, in Südafrika hat man die Apartheid beseitigt, weil die Welt das solidarisch so wollte, und auch die UNO wollte das. Aber die Palästinenser werden allein gelassen.

Was müsste Israel als erstes tun?
Israel muss die Siedlungsfrage regeln, die Siedlungen räumen. Wie man das macht, weiß ich nicht, aber in Israel weiß man es. Und man muss die Besatzung beenden, die Rechte der Palästinenser respektieren, wie das auf Selbstbestimmung und das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr - kann sein, nur teilweise, ich weiß nicht genau, wie das wird, aber die palästinensischen Flüchtlinge haben das Recht auf Rückkehr. Es gibt eine UNO-Resolution dazu. Man vergisst das alles. Und auch in der Linken sind viele, die das vergessen. Und das ist für mich abscheulich als Jüdin und Israelin.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.