Köpfe tätschelt man von oben
Sebastian Friedrich über die Fußball-WM und den neuen Nationalismus in Deutschland, den Standortnationalismus
Fußball ist in Deutschland nicht einfach nur Fußball. Das »Wunder von Bern« 1954 legte den Grundstein für den deutschen Nationalmythos der Nachkriegszeit, schließlich war man endlich wieder wer. Die WM 2006 war dann die Reifeprüfung für einen entspannten Umgang mit der Nation. Noch konnte dieser entkrampfte Nationalismus aber seine volle Kraft nicht entfalten, denn die deutsche Wirtschaft war längst noch nicht so weit »reformiert« wie erwünscht. Anders im Jahr 2014, in dem die goldene Generation endlich den Titel geholt und damit das Sommermärchen 2006 vollendet hat − und schon wird fleißig an einem neuen Nationalmythos gearbeitet.
Wenig überraschend wurde der WM-Sieg sofort verallgemeinert. In der »Berliner Morgenpost« betonte Hajo Schumacher am Tag nach dem WM-Sieg, dieser sei ein typisch deutsches Produkt, »zu verdanken dem Beharrungsvermögen einiger unerschrockener Köpfe«. Der Erfolg zeige: »Wer gut ist, der kann hier was werden, wenn viele daran glauben und mitarbeiten. Dieser Geist ist mehr wert als jede Trophäe.« Es ist der neue Geist des deutschen Nationalmythos, der sich hier zeigt: Deutschland ist die Nation der Leistungsgesellschaft, in der alle alles schaffen können, sofern sie es richtig wollen. Die hier zum Ausdruck kommende Leistungsideologie ist kein Novum, doch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war sie so eng verbunden mit dem nationalistischen Diskurs. Und noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik befand sich Deutschland wirtschaftlich und politisch weltweit und vor allem in Europa in solch hervorragender Position.
Dazu passt, dass besonders die Bescheidenheit und der Respekt betont wird, mit dem das D-Team auftrat. Auf »Zeit Online« wurde das neue deutsche Selbstbewusstsein gefeiert, das so frei sei von Arroganz und Häme. Der Tanz einiger siegestrunkener DFB-Kicker, die bei der Ankunftsfeier am Brandenburger Tor die unterlegenen Argentinier verhöhnten, wurde rasch öffentlich skandalisiert. Was 2008 von teilweise den gleichen Spielern an gleicher Stelle vorgeführt wurde und seinerzeit niemanden empörte, schickt sich heute nicht mehr, denn der Respekt gegenüber den Unterlegenen ist Teil des neuen Nationalismus. Köpfe tätschelt man in der Regel von oben.
Hinzu kommt: Es sind nicht mehr nur Walters, Beckenbauers und Völlers, die den Titel holten, sondern nun heißen die Helden auch Khedira, Boateng und Özil. Der neue deutsche Nationalmythos hat die Realität der Einwanderungsgesellschaft in sich aufgenommen: Schwarz-Rot-Gold ist bunt.
Der neue Nationalismus nimmt zudem die Nazi-Vergangenheit Deutschlands selbstbewusst in sich auf. Im »Spiegel«-Titel von letzter Woche erfahren wir, dass kein anderes Volk der Welt »so grässliche Dinge angetan« habe. Nur durch ein Komma getrennt, wird fortgefahren: »... kein anderes Volk hat sich so schuldbewusst und intensiv mit der Geschichte seiner Verbrechen befasst«. Will heißen: Auschwitz ist singulär, die Bewältigung mit Auschwitz ist es aber auch. Plusminusnull − die Rechnung ist beglichen.
In diversen Beiträgen wird außerdem hervorgehoben, dass die Fußballspieler Deutschland Nachhilfe geben sollten, mit der eigenen Stärke umzugehen, was gerade angesichts der außenpolitischen und europapolitischen Aufgaben notwendig sei. Implizit wird eine härteres Beharren auf deutsche Interessen auf dem internationale Parkett gefordert.
Der alte BRD-Nationalmythos war weiß, deutsch, männlich, spießig und verklemmt, der neue Geist ist leistungsorientiert, bescheiden, entspannt, bunt, geläutert und dominant. Dieser neue Nationalismus stellt Linke vor besondere Aufgaben, denn seine Stärke besteht darin, die antifaschistische und antirassistische Kritik zum Teil in sich aufgenommen zu haben und damit als post-nationalistisch zu erscheinen. Der neue Geist sollte keineswegs darüber hinweg täuschen, dass er nichts anderes als Nationalismus ist. Das Credo ist ein altbekanntes: Wir sitzen alle in einem Boot, alle packen mit an, um den Standort nach vorne zu bringen. Was Deutschland nützt, nützt allen. Alle die Gesellschaft in Deutschland durchziehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen werden auf diese Weise nivelliert. Damit erfüllt der neue Geist die klassische ideologische Funktion, aber er drückt sich anders aus und hat weniger zu tun mit dem (alten) völkischen Nationalismus, dafür viel mit (modernem) Standortnationalismus.
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