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»In der Nacht rufe ich jedwede Macht an ...«
Das Panorama Museum im thüringischen Bad Frankenhausen präsentiert das Lebenswerk des großen französischen Zeichners Fred Deux
»Wenn der Mond Wasser trinkt« ist der Titel einer farbigen Zeichnung. Sie steht programmatisch für den französischen Künstler Fred Deux, der sein Leben lang mit dem Bleistift wie ein Getriebener innere Strukturen sichtbar macht. Die Arbeit, die er als fast 90-Jähriger schuf, ist ein zartes Gewebe voller Poesie, das leicht auf dem Blatt schwebt. Die Virtuosität berührt. Sein runder Geburtstag ist der Anlass für die Retrospektive, mit der ihn das Panorama Museum im Thüringischen Bad Frankenhausen gleichsam als erster Gratulant ehrt. Danach folgt eine Reihe weiterer Expositionen in Bochum, der Schweiz und Frankreich.
Erst spät hat der Kunstbetrieb den Einzelgänger entdeckt. Vor zehn Jahren feierte ihn das Centre Pompidou mit einer großen Personalausstellung. Deux musste einen steinigen Weg gehen, bis er sich ganz seiner künstlerischen Berufung widmen konnte. Geboren wurde er 1924 in einer Arbeiterfamilie in Boulogne-Billancout. Die gesundheitlichen Schäden, die er durch die Lebensbedingungen in einer feuchten Kellerwohnung davontrug, blieben ein Trauma und hatten unmittelbaren Einfluss auf sein späteres Werk. Im Zweiten Weltkrieg schloss sich Deux der Widerstandsgruppe der Fabrik (FTP) an und ging in den Untergrund. Nach seiner Rückkehr entdeckte er die Surrealisten um Breton und wurde in Paris Mitglied der Gruppe, die er nach kurzer Zeit jedoch wieder verließ. Den stärksten Einfluss übte zu Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit das Werk von Paul Klee auf ihn aus. Frühe Zeichnungen, die in Bad Frankenhausen zu sehen sind, zeigen filigrane, flüchtige Strukturen. Mehr und mehr verdichten sich die immer genauer werdenden Striche zu plastischen Gebilden und Figuren, die das Innere nach außen tragen. Verletzte Körper sind mit anderen Menschen und ihrer Umgebung untrennbar verbunden. Aus dem Geflecht kann sich niemand lösen.
Deux hat keine Geschichte im Kopf, wenn er mit dem Zeichnen beginnt. »Es gibt ein Mysterium, das zugleich einem inneren Schweben und einem Sich-Treiben-Lassen entspricht. Ich taste mich voran und überrasche durch Striche das langsame Vorankommen der ›Arbeit‹«, schreibt der Künstler über sein Vorgehen. Dass er sich beim Arbeiten verliert, sich wie in Trance von einer Idee zu nächsten bewegt und sie zu einer Struktur verwebt, die sich kaum entschlüsseln lässt, macht ihn zum Mittler zwischen sichtbaren und unsichtbaren Welten. Faszinierend ist die Art der Strichführung, mit der er malerische und grafische Effekte erzielen kann. Deux bevorzugt große Formate, um sie mit seinen feingliedrigen Wesen auszufüllen.
Auch wenn sich Bezüge in die Kunstgeschichte finden, zur ägyptischen Kunst, zu Jenseitsvorstellungen, die sich in umhüllten Körpern zeigen, ist das Werk des Zeichners von einer spielerischen Freiheit geprägt, die ihresgleichen sucht. Die Werke, die er mit dem Bleistift, seltener mit Tusche und Aquarell malt, bestechen durch die Palette unterschiedlichster Grautöne. Dicht und spannungsvoll sind die Darstellungen, mitunter von textiler Anmutung. »In der Nacht rufe ich jedwede Macht an, dafür zu sorgen, dass die Zeichnung nicht vor mir stirbt … und dass ich die Zeichnung niemals sterben sehen muss«, formuliert der 90-jährige Künstler. Wer die jüngsten Arbeiten sieht, spürt ihre und seine Lebendigkeit.
Der französische Zeichner passt in das Konzept des Panorama Museums, das Direktor Gerd Lindner klar auf »zeitgenössische figurative Kunst mit stark metaphorischer Prägung von internationalem Rang« ausgerichtet hat. Ein außerordentlicher Besuchermagnet ist aber nach wie vor das spektakuläre Monumentalgemälde »Frühbürgerliche Revolution in Deutschland«, das Werner Tübke von 1983 bis 1987 geschaffen hat. Der Eindruck beim Betreten des abgedunkelten Raumes mit der »Sixtina des Nordens« ist überwältigend: Auf 14 Metern Höhe und 123 Metern Umfang tummeln sich allein 3000 Figuren in verschiedenen Szenen. Während andere Museen auf elektronische Medien setzen, vertraut man im Panorama Museum auf die Kraft des gesprochenen Wortes. Mehr als ein Dutzend Führer bieten individuelle Führungen, die sich an der Intention der Gedankenwelt Tübkes orientieren. Auch hier gibt es ein Jubiläum: Am 14. September jährt sich die Eröffnung zum 25. Mal.
Panorama Museum Bad Frankenhausen: April bis Oktober 10-18 Uhr, Führungen ganztägig; Ausstellung Fred Deux »Le livre de la vie« noch bis zum 12. Oktober
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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