Atommüll, Angst und extreme Regenmengen

Michael Müller, als SPD-Politiker bis 2009 Parlamentarischer Staatssekretär im Umweltministerium, heute Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschlands, über die Woche aus Klimarettersicht

  • Lesedauer: 7 Min.

klimaretter.info: Herr Müller, Gorleben wird geschlossen – die Erkundungsarbeiten in dem niedersächsischen Salzstock werden eingestellt, nur noch ein Mindestbetrieb soll aufrechterhalten bleiben. Genügt das, um eine ergebnisoffene Suche nach einem Atommülllager zu garantieren, wie sie das Endlagersuchgesetz fordert?

Michael Müller: Das ist ein wichtiger Schritt, aber noch lange nicht alles, um den aus meiner Sicht falschen Weg Gorleben zu beenden. Ich hätte mir einen klaren Schnitt zu Gorleben gewünscht, so wie ihn Niedersachsen gefordert. In der Vergangenheit hat die Region leider viel zu viele schlechte Erfahrungen gemacht. Da ist viel Vertrauen verloren gegangen.

Die Aufgabe der Atommüllkommission ist, zum einen eine Lösung für die Hypotheken des Atomzeitalters zu finden. Die Schlüsselfrage scheint mir die Rückholbarkeit zu sein. Zum anderen sollte die Kommission aus meiner Sicht Kriterien entwickeln, wie unsere hyperindustrialisierte Gesellschaft mit komplexen, langfristigen Problemen umgeht. Das ist das, was Hans Jonas in »Das Prinzip Verantwortung« als Fernstenliebe bezeichnet.

Die Systemlogik der heutigen Moderne ist Arbeitsteilung und Beschleunigung oder – anders ausgedrückt – immer mehr Events in einem Regime, das nur die Kurzfristigkeit kennt. Doch die heutigen Herausforderungen – nicht zuletzt verursacht durch eine eindimensionale Logik, die viel mit der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche zu tun hat – werden immer komplexer und langfristiger, erfordern also gerade das Gegenteil heutiger Verhaltens- und Entscheidungsmuster.

Die Debatte über die Atommülllagerung darf nicht von alten Positionen aus geführt werden, sondern sie muss demokratisch offen sein, das heißt verständigungsorientiert und nachhaltig. Dabei gibt es klare Ausgangspunkte: Der Ausstieg aus der Atomkraft, die Energiewende und die Bereitschaft, aus den gemachten Fehlern zu lernen.

Der Stadtrat von Stade an der Unterelbe hat dem Bau eines umstrittenen Kohlekraftwerks grünes Licht erteilt. Zu einem Drittel will sich der Chemiekonzern Dow durch das Kraftwerk mit Strom selbst versorgen. Was sagen Sie zu Ihrer Parteikollegin, Bürgermeisterin Silvia Nieber, die voller Lob für den Kohlekraftwerksbau ist?

Das fossile und nukleare Zeitalter muss schnellstmöglich beendet werden. Das machen sowohl der Klimawandel und die Umweltbelastungen als auch die Endlichkeit und ungleiche Verteilung der Rohstoffe unabdingbar. Den Bau neuer Kohlekraftwerke wie in Stade zu loben heißt, den Ernst der Lage nicht zu erkennen, denn die Menschheit überschreitet planetarische Grenzen.

Auch die politische Linke – gleich ob Parteien oder Gewerkschaften – muss begreifen: Die Ausbeutung der Menschen und die Ausbeutung der Natur stehen in einem Zusammenhang. Die alte Strategie, die soziale Frage durch ein immer höheres Wirtschaftswachstum zu entschärfen, funktioniert immer weniger. Das war die Strategie der Nachkriegszeit. Die soziale und die ökologische Frage sind aber immer enger miteinander verzahnt, sie dürfen und können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Ich bedauere sehr, ja halte es für falsch, dass unter der Energiewende fast nur der Ausbau erneuerbarer Energien verstanden wird. Und dass sie auf die Kostenfrage oder auf Einzelaspekte wie den Strommarkt oder den Netzausbau reduziert wird.

Bis heute gibt es im politischen Raum kein mehrheitsfähiges Konzept, das den Herausforderungen von Energieeinsparung, Effizienzrevolution und erneuerbaren Energien gerecht wird – und zwar in allen drei Bereichen Strom, Wärme und Mobilität, die ebenfalls in einem Zusammenhang gesehen werden müssen. Deshalb fehlt die Klarheit, um was es geht: eine sozial-ökologische Transformation hin zu einer Ökonomie des Vermeidens – also des Einsparens eines nicht notwendigen Verbrauchs – durch solare Energiedienstleistungen.

Was zudem die Entscheidung in Stade so problematisch macht, ist der Tatbestand, dass mit dem Kraftwerk für die nächsten 40 Jahre die Weichen falsch gestellt werden. Die Energiewende wird dadurch erschwert, denn die braucht regionale Energiekonzepte, die alle Bereiche umfassen und auch über die »Versorgung« einer Stadt wie Stade hinausgehen. Es geht um das Ende der fossilen Verbundwirtschaft.

Eine Studie der Universität Friedrichshafen kommt zum Ergebnis: Das Zwei-Grad-Ziel spielt in der Medienberichterstattung kaum noch eine Rolle. Die Forscher haben beobachtet, dass sich die Diskussion um das Zwei-Grad-Limit vom Politikteil in den Wirtschaftsteil bewegt hat, und registrieren eine Müdigkeit gegenüber dem Klimaproblem. Wie sollte man Klima-Themen idealerweise vermitteln?

Die weit verbreitete Grundstimmung in unserer Gesellschaft ist: Es soll so bleiben, wie es ist. Aber gerade dann werden die bisherigen Sicherheiten – die außerdem bereits ein Viertel der Gesellschaft ausgrenzen – schon bald radikal beendet sein. Das ist der Unterschied zum Beispiel zu den Reformjahren Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger. Damals wollte eine Mehrheit Reformen – heute hat die Politik dazu beigetragen, dass Reformen diskreditiert sind. Doch ohne eine sozial-ökologische Transformation wird es keine Zukunft geben.

Theoretisch ist das angesichts der Fakten und Trends klar, aber es ist nicht im realen Bewusstsein der Bevölkerung verankert. Und große Teile der Politik ignorieren die Herausforderungen. Viele glauben, dass es nur um vorübergehende Erschütterungen geht, die mit neuen Techniken und höherem Wachstum bewältigt werden können, oder sie haben einfach Angst die Wahrheit zu sagen.

Im heutigen Regime des ökonomistisch geprägten Hier und Jetzt werden Fragen, die weit über den Tag hinausgehen, oftmals verdrängt, zumal wenn die Antworten viel abverlangen. Die Entpolitisierung der Öffentlichkeit ist das Grundproblem, es gibt keine Intellektualität in der Debatte, vorherrschend ist stattdessen ein Marketing, das sich Stimmungen anpasst. Politik muss aber Gestaltungswillen zeigen, muss Zusammenhänge aufzeigen und Wahrheiten aussprechen.

Nach 16 Jahren der Regierungszeit von Helmut Kohl, die im Reformstau endeten, haben viele geglaubt, unpolitischer geht es nicht. Dann kam die rot-grüne Zwischenphase, doch seit der Amtszeit von Angela Merkel ist die Vermeidung politischer Debatten zum Markenzeichen der Politik geworden. Und viele – vor allem in den Medien – nennen das auch noch erfolgreich, obwohl es zulasten künftiger Generationen geht.

Im ersten Halbjahr dieses Jahres gab es einen Windkraftboom – ausgelöst durch die Unsicherheit über die Wirkung der jetzt in Kraft getretenen EEG-Reform mit seinen Förderkürzungen und Ausbauhürden. Wie soll in Zukunft das gesteckte Zweieinhalb-Gigawatt-Jahresziel für Wind und Solar erreicht werden?

Vor allem durch den konzeptionellen Mut, in der Politik weiterreichende Projekte zu vertreten und nicht von der Hand in den Mund zu entscheiden. Deshalb fordern viele Umweltverbände eine grundlegende Neuorientierung. Das Herumgeeiere ist die Konsequenz aus der Angst, ein politisches Projekt zu verfolgen. Die Umweltverbände dürfen sich nicht auf eine Arbeitsteilung einlassen, sie müssen sich stärker in die Politik und in die Entscheidungen der Parteien einmischen.

Und was war Ihre Überraschung der Woche?

Zweifellos überlagern die schrecklichen Kriegsereignisse in der Mittelmeerregion – in Syrien, im Gazastreifen, in Libyen – und in der Ostukraine fast alles andere. Trotzdem ist es erstaunlich, dass über die wahrscheinlichen Ursachen der extremen Regenmengen in einigen Regionen unseres Landes kaum geredet wird. Es wurde zum Beispiel über die Überschwemmungen in Münster informiert, aber die Zusammenhänge mit klimatischen Veränderungen wurden kaum genannt. Gleichzeitig wurden fast ohne Diskussion in Brüssel und den Mitgliedstaaten der EU weitergehende Klimaziele aufgekündigt. In einigen Jahren wird klar sein, wie groß das heutige Versagen ist.

Fragen: Benjamin von Brackel

Der Artikel auf klimaretter.info.

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