Dichtung - Jugend - Krieg
Vor 100 Jahren beging der Dichter Friedrich Heinle Selbstmord - aus Protest gegen den Krieg. Ein literarischer Essay
In dem alten Café des Westens war es, dass wir in den allerersten Augusttagen miteinander saßen und unter den Kasernen, auf die sich der Ansturm der Freiwilligen richtete, unsere Wahl trafen. Sie fiel auf die der Kavallerie in der Bellealliancestraße, und da trat ich dann auch an einem der folgenden Tage an - keinen Funken Kriegsbegeisterung im Herzen, aber so reserviert ich in meinen Gedanken war, denen zufolge es sich einzig darum handeln konnte, bei der unvermeidlichen Einziehung sich seinen Platz unter Freunden zu sichern, in dem Schwall von Leibern, der sich damals vor den Toren der Kasernen staute, war auch meiner. Freilich nur für zwei Tage: Am achten trat dann das Ereignis ein, das diese Stadt und diesen Krieg auf lange Zeit für mich versinken ließ«, berichtet Walter Benjamin über seinen Freund, den Dichter Friedrich Heinle. Der hatte den Gashahn aufgedreht. Aus Protest gegen den Krieg. Nicht zu Hause, sondern im »Heim«, einem Treff antibürgerlicher Bürgersöhne in einer Mietwohnung im Berliner Tiergartenviertel. Und nicht allein, sondern mit seiner jüdischen Freundin Rika Seligson.
Der dann folgende dreißigjährige Kriegs- und Vernichtungsfuror der Deutschen, den die beiden Liebenden voraussahen, ist über dieses Ereignis hinweggerast. Auch über den Streit zwischen Heinle und Benjamin.
Friedrich Christoph Heinle (geb. 1894 in Mayen in der Eifel, gest. 8.8.1914 in Berlin) studierte Philologie in Göttingen und in Freiburg im Breisgau, wo er im Sommer 1913 Walter Benjamin kennenlernte. Beide arbeiteten für den »Anfang«, die Zeitschrift der Jugendbewegung um den Reformpädagogen Gustav Wyneken, und gingen zum Wintersemester 1913/14 nach Berlin. Wie schon in Freiburg, so betätigten sie sich auch hier in der »Freien Studentenschaft«, einem linken Flügel der Jugendbewegung. Gemeinsam bestritten sie am 1.11.1913 einen Auftritt der linksalternativen Zeitschrift »Die Aktion«, die zwei Jahre zuvor von Franz Pfemfert gegründet worden war und sich rasch zum Sammelbecken von Aktivisten links von der SPD entwickelte hatte.
Acht Tage nach Beginn des Ersten Weltkrieges wählten Friedrich Heinle und seine Lebensgefährtin Friederike Seligson den Freitod. Benjamin hütete Heinles literarischen Nachlass, musste ihn jedoch vor seiner Flucht vor den Nazis in Berlin zurücklassen. Auf der Flucht wählte auch er den Freitod. Pfemfert gelang die Flucht nach Mexiko. Nach der Befreiung kümmerte sich ein weiterer Emigrant, der in Jerusalem lebende Literaturwissenschaftler Werner Kraft, um Heinles Erbe. Noch immer fehlt eine Edition der Werke und Briefe des Dichters. Antonín Dick
Heinle sieht man, wenn man Glück hat, nachts im Tiergarten gegen einen Baum gelehnt, lauschen und träumen. Es ist ein anderer, ja, aber er ist es. Leise Lieder ertönen manchmal. Der Worte dazu bedarf es nicht, sie können nur falsch sein. Alle Menschen werden Bürger. Stille fällt, herabgefallene Stille. Dann quillen durch sämtliche Mauern der Gefängnisse, Psychiatrien, Alten-, Obdachlosen-, Kinder- und Asylbewerberheime, die sich in der Nähe befinden, Albträume, Halluzinationen, Ängste und Aggressionen. Das ist der Stoff für Dichter. Er wird noch vor Morgengrauen, bevor das heisere Gebell der Hunde anhebt, institutionshalber »entsorgt«.
Hunde? Wecken Gedanken an ein neues Gedicht: Wer nicht zu den Ausgegrenzten gehört, achtet darauf, der sozialen Rolle des Brauchbürgers habhaft zu werden, auch wenn er gelegentlich erschrocken innehält, in sich hineinhorcht und ihm ein leises »Vorsicht, seelische Entkernungsgefahr!« entgegenhaucht, als wäre er geradewegs einer Groteske von E. T. A. Hoffmann entstiegen. Begehrt eine Bürgerin des Millionenheeres von Arbeitslosen leidenschaftlich auf, weil sie durch die Hartz-IV-Mechanik zermalmt zu werden droht, wird sie von einem Sachbearbeiter »zielführend« zu leidenschaftsloser Sachlichkeit zurückgeführt.
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1. November 1913. Autorenabend der linksgerichteten Zeitschrift »Die Aktion«. Zweikampf ist angesagt. Zwei Studenten, Benjamin und Heinle, referieren zur Frage der Jugendbewegung. Franz Pfemfert, der Chefredakteur, sekundiert.
Im Banne des vieldiskutierten »Wendepunkts des Geistes« ist Benjamin, Präsident in spe der Berliner »Freien Studentenschaft«, mit dem Umbau des Überbaus der Gesellschaft beschäftigt, während Heinle auf Umbau der Basis drängt. »Die Zeit hat vor keinem Wendepunkt des Geistes je gestanden«, schleudert der Dichter dem Funktionär als ersten Satz entgegen, und politische Protestbewegungen wie die patriotische oder Wandervogelbewegung würden als Illusionen verpuffen oder seien Vorspiele für Herrschaft, was sich zwanzig Jahre später auch tatsächlich entpuppen wird als raffiniertes Antriebsgemisch für die Errichtung des NS-Kriegsreichs. »Es ist leicht, unter Protesten zu leben«, ätzt der Dichter gegen den Funktionär, grinst breit ins Publikum, streift den Angegriffenen kalt mit Tigerblick, fährt sich nach gespieltem Gähnen gelassen über den Mund, als wolle er am eigenen Leib vorführen, wie materiell und einzelinteressegeladen Leben sei, und flötet: »Für Gehässigkeit und Staunen bringen wir keinen Humor auf.« Und wie sich der Rebell von Schwarmgeisterei absetzt, so vom Gleichmacher Markt, der jede Individualität plattmache, angefangen bei der Entkernung von Liebe via Sex.
Pfemfert ist machtlos. Rika steht auf Heinles Seite, fordert aber Versöhnung, denn Benjamin sei schließlich sein Freund, der ihn und sie nach Berlin geholt habe. Doch Benjamin bleibt hart: »Denn es bleibt das Ziel: Heinle aus der Bewegung zu stoßen«. So im Brief vom 17. November 1913 an Carla Seligson, eine der beiden Schwestern von Rika. Bürgerarroganz, wird er später zerknirscht eingestehen.
Spätestens jetzt hätte man wahnsinnig gern einmal mit Heinle geredet …
Wenn wir seine Texte wieder und wieder studieren (nicht als apologetische Interpreten, die nicht müde werden, die Spuren zu verwischen, die von Georg Büchner direkt zu Heinle führen), entdecken wir eine Modernität, die uns den Atem verschlägt, gespeist von einer explosiven Mischung aus existentialistischen Früherfahrungen und (was ihn von Jean-Paul Sartre unterscheidet) religiöser Bindung.
Wir alle sind gefangen hierzulande, Luxus- wie Armutsgefangene in den Knästen des Kapitals, Träger von Charaktermasken nach Marx, wir sind nicht wir selbst. Was ist das für ein »Gesetz befreiter Haft«, das der Dichter so inbrünstig beschwört? Nicht Kapitalismuskritik aus Logik, sondern aus Liebe, Kapitallogik eingeschlossen. Die beiden Liebenden sind gläubig, und als solche stellen sie die Frage nach den Möglichkeiten solidarischer Begegnung zwischen den Menschen, die sich heute auch junge Franzosen in marktkritischen Gruppen stellen, gleich modernen Rousseaus ihre Handys und Laptops wegwerfen und damit die vorlogischen Grundlagen schaffen für solch ein marktkritisches Werk wie »Das Kapital im 21. Jahrhundert« des Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty, das weltweit gefeiert und im Oktober 2014 auf Deutsch erscheinen wird.
Die Befreiung des in den Gefängnissen des Kapitals gefangen gehaltenen Menschenbruders - das ist im Kern der Aufbruch, wie ihn die beiden Liebenden anstrengen. Ein utopisch-kommunistischer Ansatz in der Dimension sozialer Kleingruppen, natürlich nicht zu verwirklichen unter Voraussetzung materieller Massenproduktion. Aber wir erleben ja heute verstärkt, wie Marx in seinen »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie« voraussah, ein Heraustreten des Menschen aus dem unmittelbaren Produktionsprozess, und dies fördert produzierende Kleingruppen und damit jenen Ansatz.
Und der Akt der Befreiung? Ein individueller. Aus Liebe. Aus Solidarität. Bergung der verschütteten Persönlichkeit als riskanter, ja, den Tod streifender Vorgang, wie nach einem Bergwerksunglück, nur hier das Paradoxon, dass Eingeschlossener und Retter eine Person sind - das Gesetz befreiter Haft.
Alles Bergungsgeschehen strebt einem inaktiven Schwebezustand zu, der sich der Öffentlichkeit entzieht: »Die Nacht wird farblos und der Schatten schweigt/ Still Herz, sag niemand dass der Morgen steigt/ Ein Flimmern rings als wogte dort ein See/ Sacht fließen Düfte wie von zartem Weh/ Ich will mich bergen dass mich nichts errät/ Dass nur der Wind in meine Stille weht/ Dass nur der Regen an mein Fenster rinnt/ Drin all die Seufzer meine Schwestern sind.«
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Benjamin ist geschockt. Heinles Freitod revolutioniert ihn. Er steigt aus. Dichtet. Flüchtet. Kehrt um. Wird kraft Liebe zur kommunistischen Regisseurin Asja Läcis aus Moskau Marxist. Der elitäre Bauchredner, wie beide den »Führer der deutschen Jugend« Stefan George nennen, wird der Mitschuld am Tod des Freundes überführt: »Im Frühjahr 1914 ging unheilverkündend überm Horizont der ›Stern des Bundes‹ auf, und wenige Monate später war Krieg. Ehe noch der Hundertste gefallen war, schlug er in unserer Mitte ein. Mein Freund starb.« Verse wie aus Stahlfedern. Immer noch federnd. Benjamin überwindet das Georgesche deterministische Dichten, weil es zwanghaft und undemokratisch stets nur einen Zielpunkt ansteuere, und träumt sich über den Bosporus, lässt sich fluten von nichtdeterministischen Wellen persischer und arabischer Gesänge.
Spätestens jetzt hätte man wahnsinnig gern einmal mit Heinle geredet, doch der wandert bereits weiter durch die »proletarischen Quartiere Moabits«, wie Benjamin erzählt. Doch Heinle weiß das selbst zu erzählen: Aber heimlich, ihr Nachgeborenen, musste augenblicklich fort aus Benjamins rauschender Literaturnacht, fühlte tief meine Gier, auf mondheller Anhöhe meinen dreizehnten Versuch zu sein einzuritzen, während dort unten im Gefängnisviertel die schlafenden Verurteilten dem Gesetz befreiter Haft entrückt entgegenträumen, viel weitherzigere Menschen, glauben Sie es mir, als diese smarten Selbstoptimierer in Freiheit, die nichts tun, als aus dem Leben etwas für sich herauszuschlagen:
Alle Schwere sinkt zu Tal
Lieder werden Frieden bringen
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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