Erfundene Tradition

Beim Islamismus handelt es sich um eine Ideologie, mit der als dramatisch erfahrene Modernisierungsprozesse bewältigt werden

  • Hannes Bode
  • Lesedauer: 4 Min.
Die einen wollen die Macht im Nationalstaat, für die anderen ist der zum Terror gesteigerte Kampf Selbstzweck geworden. Islamismus hat viele Facetten.

Immer wieder taucht in der Berichterstattung das Attribut »islamistisch« auf. Doch wenn der Begriff nicht mit Inhalt gefüllt ist und obendrein fälschlich schlicht mit Religion assoziiert wird, droht er mehr zu verschleiern als zu erklären.

Geht es um (sunnitischen) Islamismus, sind meist sowohl »politischer Islam«, Salafismus und Dschihadismus gemeint. Für erstere Strömung stehen etwa die ägyptischen Muslimbrüder oder Erdoğans türkische AK Parti. Sie zielen auf die Erringung der Macht im Nationalstaat, um die von ihnen angestrebte neoliberale und wertkonservative Ordnung zu errichten, und gehen den »Weg durch die Institutionen«. Ihre politische Organisation flankieren sie mit einem Netz sozialer und religiöser Einrichtungen, ihr aufwendig inszenierter Bezug auf Religion ist ihr Wahlkampfschlager. Einmal an der Macht, verknüpfen sie meist marktradikale Wirtschaftspolitik mit einem populistischen Moralismus, gehen etwa gegen Alkoholkonsum oder »Geschlechtermischung« vor.

Salafisten sind Islamisten, die sich von Staat und Politik größtenteils fernhalten und Gesellschaftsreform vor allem auf individueller Ebene und durch Propaganda, etwa in Moscheegemeinden, erreichen wollen. Sie richten sich an einer fiktiven »goldenen Urzeit« aus, suchen den buchstabengetreuen Sinn in den religiösen Schriften und stellen die strikte Befolgung äußerlicher Vorgaben etwa zum genauen Ablauf des Gebets, Frisur- oder Kleidungsstilen in den Mittelpunkt. Orientierung finden sie in einer rigiden Gesetzesethik. Es handelt sich um eine Bewegung, die nur noch die Schrift und die Verinnerlichung des radikalisierten Eingottglauben kennt. Parallelen gibt es zur europäischen Reformationsgeschichte, zu Bildersturm und Puritanismus.

Aktuell in den Schlagzeilen sind die Dschihadisten. Sie sind Salafisten, die Ideen des »politischen Islam« zu revolutionärer Gewalt gegen »gottlose« und »ungerechte« Gesellschaften und Staaten weiter radikalisiert haben. Gruppierungen wie der »Islamische Staat« (IS), der in Irak und Syrien kämpft, haben jeglichen Bezug auf Nationalstaaten und Gesellschaftsreform fallengelassen. Sie sehen den Rückzug der Einzelnen aus der Gesellschaft und den totalen Kampf als Bedingung von Befreiung und Erlösung, der Kampf gesteigert zum Terror ist dabei aber nicht Mittel, sondern Selbstzweck im permanenten »Dschihad«. Immer wieder mit »Orthodoxie« und »Mittelalter« assoziiert, lehnen sie im Gegenteil Symbole islamischer Geschichte weitgehend ab. Die komplexe islamische Tradition von Theologie oder Rechtslehre wird von Islamisten insgesamt abgelehnt, einzelne Versatzstücke werden aber eklektizistisch herangezogen. Alles, was mit Frömmigkeit und »Vermittlung« zusammenhängt, wird von den Dschihadisten bekämpft - ob Schreine, Heiligengräber, Moscheen oder religiöse Feste. In Irak sprengte der IS zuletzt die bedeutendsten Moscheen und Pilgerstätten der muslimischen Bevölkerung Mossuls. Auch der weitaus größte Teil der zehntausenden Opfer islamistischer Gewalt »gegen Kreuzfahrer und Juden« und »Ungläubige« sind Muslime.

Islamismus ist insgesamt ein Phänomen der kapitalistischen Moderne, eine Krisenbewältigungsideologie. Es handelt sich um eine unter dem Eindruck dramatisch erfahrener Modernisierungsprozesse im Nahen und Mittleren Osten formulierte und praktizierte Reinterpretation und Neukonstruktion der religiösen Tradition und die parallele Schaffung einer kollektiven Identität - eine »vorgestellte Gemeinschaft« mit einer »erfundenen Tradition«. Frühe Träger waren nicht ohne Grund soziale Gruppen, die von der Entwicklung an den Rand gedrängt wurden. Die Abstiegs- und Entfremdungserfahrungen und Orientierungskrisen wurden verarbeitet, indem die eigene soziale Lage als ›wahre islamische Ordnung‹ identifiziert und gegenüber der traditionalen dörflichen Kultur aufgewertet wurde - wie auch gleichzeitig gegenüber der unerreichbaren bürgerlichen, zumeist kolonialen Kultur der Städte. So polemisierten die Muslimbrüder in den 1920er oder 1930er Jahren sowohl gegen muslimische Volksfrömmigkeit wie gegen Kinos und Koedukation.

Im Zentrum des »Kulturkampfes« der Islamisten steht seit damals die Forderung nach der allgemeinen Wiederherstellung traditional patriarchalisch geprägter Sozialbeziehungen und Moralvorstellungen in Familie, Politik, Ökonomie, Recht und Kultur. Sexualmoral und die Struktur der Familie stehen oft im Vordergrund. Parallelen finden sich dabei auch zu der aktuellen jungen Anhängerschicht salafistischer und dschihadistischer Gruppen unter Migranten und Konvertiten in Europa, »doppelt entfremdet« von ihrer Familie und der Gesellschaft, gescheiterte Existenzen mit einem narzisstischen Fokus auf Körperlichkeit und Männlichkeit. Strebt der politische Islamismus nach Ausgleich in der totalen Übereinstimmung von Staat und homogener Gemeinschaft, suchen die Dschihadisten ihn im Zu-sich-selbst-Kommen des vereinzelten Subjekts im totalen und permanenten Kampf.

Die islamische Tradition steht nur insofern in Bezug zum Islamismus, als Versatzstücke aktiv mobilisiert werden, die zentralen Inhalten islamisierte Formen geben. Deutlich wird das am modernen Antisemitismus, einem Grundelement des Islamismus. Er erscheint äußerlich islamisiert, etwa gerahmt von Koranzitaten. Doch was seinen Inhalt und seine Semantik angeht, leitet er sich nicht aus der realen religiösen Tradition ab. Verschwörungsdenken und die Assoziation von Juden mit Macht und Finanzen haben in der Region vielmehr kein historisches Vorbild.

Antisemitische - meist gleichzeitig antiisraelische - Propaganda findet sich zudem nicht nur bei den Islamisten. Es finden sich hier vielmehr keinerlei inhaltliche Unterschiede etwa zwischen sunnitischen Muslimbrüdern, der schiitischen Hizbollah oder dem säkularen Baath-Regime unter Assad in Syrien. Der Jude ist dem Antisemiten Personifikation des Abstrakten, des Unverstandenen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Im Nahen Osten wurde er in den letzten Jahrzehnten auch noch zur Personifikation des Unverstandenen, Gewaltsamen des dortigen Transformations- und Modernisierungsprozesses - samt kolonialer und imperialistischer Bedingungen.

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