Hin oder Her und Stopp an der Grenze
Verwirrung um Hilfs- und Militärkonvois in der Ukraine / Kiew kündigt »Befreiung« von Donezk und Lugansk an
Der russische Hilfskonvoi mit 2000 Tonnen humanitärer Güter für die Menschen im ostukrainischen Kriegsgebiet tauchte am Freitag am Grenzübergang Donezk wieder auf. »Unsere Vertreter haben vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz keine Frachtpapiere erhalten. Sobald die Papiere vorliegen, werden die Grenz- und Zollbeamten mit der Erledigung der Formalitäten beginnen«, teilte laut Ria/Nowosti der Sprecher des ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Andrej Lyssenko, mit.
Zuvor hatte es geheißen, rund 60 Vertreter des ukrainischen Zolls und Grenzschützer würden die Ladung auf russischem Gebiet überprüfen. Am Vorabend hatte der Kiewer Sicherheitsrat nach eigenem Bekunden auf Nachfragen noch nicht einmal gewusst, wo die 280 schweren Lastkraftwagen überhaupt abgeblieben sein könnten. Sie waren offenbar im Kiewer Verwirrspiel um Routen und Regeln für die ungewollte Lieferung abhanden gekommen. Ein Sprecher der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) informierte am Nachmittag, noch sei kein Lkw unmittelbar an der Grenze eingetroffen.
Alle Ampeln auf Grün schaltete die ukrainische Regierung hingegen für ihre eigenen Konvois mit rund 800 Tonnen Hilfsgütern. Mehr als 20 Lastwagen aus Charkow seien am Sammelpunkt Starobelsk nördlich des umkämpften Gebiets unter Aufsicht des Roten Kreuzes entladen worden, teilte Irina Geraschtschenko von der Präsidialverwaltung zufrieden mit. In Donezk und an anderen umkämpften Orten des Donbass verteilten laut örtlichen Medien auch Kämpfer der »Volksrepublik« Brot an die Bevölkerung. Erwartet wurden Transporte aus Dnjepropetrowsk und Kiew.
International großes Aufsehen erregten aber ganz andere Fahrzeuge. So soll eine russische Militärkolonne von Journalisten beim Eindringen auf ukrainisches Territorium beobachtet worden sein. Wie die britischen Zeitungen »The Guardian« und »The Telegraph« berichteten, habe ein Konvoi aus 23 gepanzerten Mannschaftstransportwagen gemeinsam mit Tanklastwagen und anderen Versorgungsfahrzeugen am späten Donnerstagabend in der Ostukraine die Grenze zum Nachbarland passiert. An allen Fahrzeugen seien russische Militärkennzeichen angebracht gewesen.
Ein ukrainischer Militärsprecher schränkte gegenüber der Agentur AFP ein, es gebe noch keine bestätigten Informationen über die Zahl der Fahrzeuge, die tatsächlich in die von Separatisten kontrollierte Region eingedrungen seien. Außenminister Pawlo Klimkin kündigte an, die Regierung wolle das untersuchen.
Die russische Grenzschutzverwaltung für das Gebiet Rostow dementierte prompt und konterte. Sie selbst ergreife angesichts des regelmäßigem Beschusses des russischen Territoriums und dem häufiger gewordenen massenhaften Grenzübergang durch ukrainische Militärs alle Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Einwohner der grenznahen Ortschaften.
Eine andere Militärkolonne auf russischem Gebiet verursachte bei ihrem Marsch weg von der Grenze keinerlei Aufregung. Dabei berichtete ein Reporter von Spiegel online: »Auf der Weiterfahrt in Richtung Donezk kommen in der Nacht mehrere Militärfahrzeuge entgegen, einige von ihnen transportieren Panzer.«
Die schweren Kämpfe um die Städte Donezk und Lugansk dauerten an. Angekündigt wurde vom nationalen Sicherheitsrat eine unmittelbar bevorstehende »Befreiung« von Donezk und Lugansk von »Terroristen«. Nach Angaben des Militärs seien drei weitere kleine Städte zurückerobert worden. Als »richtige Männer« lobte Präsident Petro Poroschenko anlässlich eines Empfangs in Kiew Militärangehörige, die aus Gefangenschaft befreit worden waren. Er sei stolz auf ihre »Staatstreue«.
In der Nacht hatte die US-Regierung die ukrainischen Streitkräfte aufgerufen, im Kampf gegen die separatistischen Rebellen im Osten des Landes Rücksicht auf Zivilisten zu nehmen. Es sei wichtig, »Zurückhaltung zu üben, um zivile Verluste möglichst klein zu halten«, sagte die stellvertretende Außenamtssprecherin Marie Harf laut dpa am Donnerstag in Washington. Die Armee müsse alles unternehmen, damit Zivilisten bei ihrer Flucht aus den Städten nicht beschossen würden.
Im »befreiten« Mariupol stürzte in der Nacht ein Lenindenkmal. Die Täter hätten die acht Meter hohe Figur mit einem Seil zu Fall gebracht, teilte die örtliche Polizei mit. Die Stadtverwaltung kritisierte »Vandalismus« an der 27 Jahre alten Statue. Von Produzenten von TV-Empfangsgeräten in Odessa forderte der ukrainische Nationalrat für Radio und Fernsehen, innerhalb von 24 Stunden die technischen Möglichkeiten für den Empfang russischer Stationen auszuschließen.
Das am Vortag verabschiedete ukrainische Gesetz, das Sanktionen gegen Russland, aber auch den Stopp des Transits von Gaslieferungen nach Westeuropa ermöglicht, mobilisierte die EU-Kommission. Die Präsidenten Russlands und der Ukraine planten weitere Gespräche mit ihr, hieß es nach einem Telefonat ihres Chefs José Manuel Barroso mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin noch am gleichen Abend.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.