Mindestens eine Vier vor dem Komma

Ralf Krämer über notwendige Lohnsteigerungen für Beschäftigte, die Exportfixierung der deutschen 
Wirtschaft und eine ungewöhnliche Empfehlung an die Gewerkschaften

  • Ralf Krämer
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat aktuell gezeigt, dass die Lohnzuwächse in Deutschland seit 2003 gemessen am Verteilungsspielraum zu gering waren. In der Metall-, Elektro- und Chemieindustrie wären sogar teils über zwei Prozent jährlich mehr drin gewesen. Deshalb empfiehlt der DIW-Wochenbericht vor allem IG Metall und IG BCE eine offensivere Lohnpolitik, um jährliche Zuwächse mit mindestens einer Vier vor dem Komma durchzusetzen.

Die Unterstützung für deutlich höhere Lohnsteigerungen aus unverdächtiger wissenschaftlicher Quelle ist hilfreich. Nicht sinnvoll ist aber die Empfehlung, die Gewerkschaften sollten grundsätzlich ihre Lohnforderungen nicht gesamtwirtschaftlich, sondern an der Entwicklung der einzelnen Branchen ausrichten – und zudem weniger Augenmerk auf den Niedriglohnsektor legen.

Der Lohn muss die Lebenshaltungskosten decken, auf dem gesellschaftlich üblichen Niveau und unter Berücksichtigung der Qualifikations- und Tätigkeitsanforderungen. Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit ist das Ziel. Es wird in krassem Umfang verletzt. So reichen etwa die Bruttostundenverdienste vollzeitbeschäftigter Fachkräfte von 25 Euro im Fahrzeugbau bis zu 13,60 Euro im Einzelhandel und elf Euro im Gastgewerbe. Damit verbunden ist eine durchschnittlich erheblich schlechtere Bezahlung von Frauen. In den vergangenen Jahrzehnten haben die ohnehin schlecht Bezahlten noch weiter verloren. Gewerkschaften müssen diese sozialen Spaltungen und Niedriglöhne bekämpfen.

Die DIW-Untersuchung zeigt: In vielen exportorientierten Industriesektoren stiegen die Gewinne erheblich stärker als die Löhne. In anderen vor allem Dienstleistungssektoren stiegen die Gewinne weniger stark, obwohl die Lohnentwicklung schlechter war. Das betrifft vor allem Bereiche, die wegen der schwachen Binnennachfrage Umsatzeinbußen hatten oder unter verschärftem Preisdruck standen. Kürzungspolitik im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen, Privatisierungen und Abbau sozialer Sicherungen für Erwerbslose und Beschäftigte verstärkten den Druck auf die Löhne.

Doch auch in diesen Sektoren sind deutlich höhere Lohnzuwächse nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch geboten. Bei wachsender inländischer Nachfrage wächst hier der sektorale Verteilungsspielraum. Die Unternehmen können mehr absetzen und nötigenfalls auch etwas höhere Preise durchsetzen, um Kostensteigerungen auszugleichen. Dies wäre im Kampf gegen die Deflation sogar hilfreich. Höhere Lohnzuwächse und Kaufkraft der Beschäftigten in den exportorientierten Industriesektoren würden dies erleichtern. Auch für die Bevölkerung insgesamt wäre das kein Problem, da ja überall die Löhne und in der Folge auch die Sozialleistungen deutlich stärker stiegen.

Die Reallohnzuwächse der Beschäftigten würden durch leicht erhöhte Inflationsraten (um 0,X Prozent) etwas geschmälert, wären aber weiter deutlich höher als zuvor. Höhere Lohnsteigerungen in der Exportindustrie würden vor allem den Anteil der Löhne am zu verteilenden Kuchen steigern. Höhere und möglichst überproportionale Lohnsteigerungen in den binnenorientierten Sektoren würden den Anteil der dort Beschäftigten an der gesamtwirtschaftlichen Lohnsumme steigern.

Ein solcher Richtungswechsel in der Wirtschafts- und Lohnentwicklung Deutschlands wäre in jeder Hinsicht geboten: sozial, zur Stabilisierung der Konjunktur und zum Abbau internationaler Ungleichgewichte. Deutschland muss weg von seiner übermäßigen Exportfixierung hin zu einer stärker binnenwirtschaftlich ausgerichteten und ausgewogeneren Entwicklung. Das erfordert eine überproportionale Steigerung der Löhne in den hierzulande auch im internationalen Vergleich schlecht bezahlten Dienstleistungsbereichen.

Nötig ist dazu nicht nur ein möglichst hoher gesetzlicher Mindestlohn ohne Ausnahmen, sondern auch die Stärkung der Tarifverträge und Maßnahmen gegen Lohndrückerei durch Leiharbeit, Werkverträge, Befristungen, Minijobs, prekäre Selbstständigkeit usw. Und eine Stärkung der Finanzausstattung des Sozialstaats durch gerechtere Steuern und paritätische Sozialbeiträge. So würde die gewerkschaftliche Durchsetzung notwendiger Lohnsteigerungen entscheidend erleichtert.

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