Boomende Unternehmen, verarmende Beschäftigte
Britische Wirtschaft ist Europas Wachstumsspitzenreiter, doch Arbeitnehmer und Scheinselbstständige verdienen immer weniger
Len McCluskey, Generalsekretär von Großbritanniens größter Gewerkschaft Unite, gab in einer kürzlich gehaltenen Rede eine düstere Jugenderinnerung preis: Mit seinem Vater besuchter er die Docks in Liverpool. Dort sah er lange Reihen von Tagelöhnern. Zwischen ihnen spazierten die Bosse. Wem sie einen Job geben wollten, dem gaben sie einen Chip. Wurde ihnen langweilig, schmissen sie die Chips auf die Straße und amüsierten sich dabei, wie sich die Arbeitssuchenden darum prügelten. »Heute«, so McCluskeys Fazit, »haben wir diesen Zustand wieder erreicht.«
Dabei ist in der britischen Wirtschaft angeblich alles rosig. Diesen Sommer steht sie, wenn man den Meldungen der großen Medienagenturen glaubt, sogar als europäischer Musterknabe da. So wuchs das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 3.2 Prozent - das höchste Wirtschaftswachstum auf der Insel seit 2007 und besser als in allen anderen G7-Ländern.
Besonders freut sich die konservativ-liberale Koalitionsregierung über den Rückgang der Arbeitslosigkeit. 900 000 neue Jobs seien von April 2013 bis April 2014 geschaffen worden, so rufen es die Spitzenpolitiker von den Dächern. Besonders freut man sich bei den britischen Konservativen über den Zuwachs der Zahl an Selbstständigen um acht Prozent gegenüber dem Jahr 2010. Auf diese Gruppe ist fast die Hälfte der seither geschaffenen Jobs zurückzuführen. Dies sei ein Beispiel für echt britischen Unternehmergeist, beteuert Premierminister David Cameron.
Allein, der Teufel steckt im Detail des umfangreichen Datenmaterials. Laut dem Britischen Gewerkschaftsbund (TUC) ist nämlich die Anzahl der echten Geschäftsleute unter den Selbstständigen seit 2010 um 52 000 gesunken. Der Zuwachs gehen allein auf Tätigkeiten zurück, die vorher von fest angestelltem Personal verrichtet wurden. Besonders die Entwicklung der Einkommen ist dramatisch: Seit 2008 sind diese bei den bei den Selbstständigen um durchschnittlich 22 Prozent auf gerade mal noch 10 000 Pfund (12 550 Euro) im Jahr gesunken. Praktischerweise taucht diese Gruppe in vielen Statistiken nicht auf.
Auch bei »normalen« Lohnabhängigen gab es den drastischsten Fall seit 1880. Die Durchschnittslöhne sind jetzt um acht Prozent niedriger als 2010; das bedeutet einen Jahreseinkommensverlust um rund 2000 Pfund (gut 2500 Euro). Unter 25-Jährige verdienen sogar 15 Prozent weniger.
Die britische Wirtschaft saniert sich also nicht etwa durch steigende Produktion, die in der Industrie auf dem Niveau von 1988 stagniert. Statt dessen erzielt man Profite durch wachsende Ausbeutung und Prekarisierung der Beschäftigten. 1.4 Millionen aller Lohnabhängigen haben sogenannte »Nullstundenverträge«, die den Unternehmern ein extrem flexiblen Einsatz der Arbeitskräfte ermöglichen sowie keinen Anspruch auf garantierte bezahlte Arbeitszeiten, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall geschweige denn Urlaub vorsehen. Die Tagelöhner an den Docks sind also wieder da.
Die Gewerkschaften wollen daher die Lohnfrage wieder auf die Tagesordnung setzen. Am 14. Oktober wird der öffentliche Dienst bestreikt. Und vier Tage mobilisiert der TUC zu einer Großdemonstration nach London. Das Motto: »Großbritannien braucht eine Gehaltserhöhung.«
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