»Ein Genosse teilt sein Brot mit dir«

Alessandro Tapinassi besetzt seit vier Jahren die ehemalige GKN-Fabrik in Florenz. Den Klassenkampf verbindet er mit Spiritualität

  • Interview: Alieren Renkliöz
  • Lesedauer: 6 Min.
GKN-Fabrik in Florenz – »Ein Genosse teilt sein Brot mit dir«

Seit Sommer 2021 kämpfen die ehemaligen GKN-Arbeiter gegen die Schließung ihrer Fabrik. Hierfür haben Sie eine permanente Betriebsversammlung einberufen, die es Ihnen erlaubt, legal auf dem Fabrikgelände zu sein. Doch nun droht die Massenkündigung. Wie blicken Sie auf diese Situation?

Die Entlassungen dürften im Verlauf des April eintreffen. Doch wir haben immer noch unsere SOMS (Società operaia di Mutuo Soccorso), die ihren Sitz hier in der Fabrik hat. Vor zwei Jahren haben wir diese Genossenschaft gegründet, um einander in schwierigen Situationen helfen zu können. Und seitdem hat unsere SOMS viele Mitglieder unterstützt. Das kann ganz konkret in Form von Geld und Krediten geschehen. Solche Genossenschaften gehen auf die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zurück. Damals sollten sie Risiken wie Unfällen und Jobverlusten begegnen. Der Staat kam da nicht zu Hilfe. Genauso können wir heute auf keine solche Hilfe bauen. Doch wir werden hierbleiben, solange wir die Kraft dazu haben. Ich habe nicht die Absicht aufzugeben. Das ist meine Fabrik, und hier werde ich bleiben.

Sie meditieren und interessieren sich für den Hinduismus. Wie sind Sie in diesen Arbeitskampf geraten?

Ich habe mich damals bei Fiat beworben, weil ich Maschinenbauingenieur werden wollte, aber in meinem Kopf war ich immer in der Musik, der Philosophie und in dem Traum von einer anderen Welt zu Hause. Seit ich etwa 20 Jahre alt war, habe ich mich als Kind einer bestimmten orientalischen Vision gefühlt. Eine nur auf den Menschen zentrierte Weltanschauung war für mich zu eng. Ich wollte einen einfühlsamen Ansatz verfolgen und die Einheit in der Vielfalt suchen. Das hat mich zur nicht dualistischen Philosophie geführt, im Sanskrit nennt man sie »Advaita«. Das GKN-Kollektiv ist ein Container voller Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Sensibilitäten, aber mit dem Grundkonzept »Tocca uno tocca tutti« – »Wer einen anrührt, greift alle an«. Mit meinen spirituellen Einstellungen bin ich auf jeden Fall eher allein. (lacht) Aber trotzdem kommen wir in diesem Gefühl der Einheit zusammen. Deswegen nennen wir uns ja auch gegenseitig Genossen.

Interview

Alessandro Tapinassi begann 1987 in der Fabrik in Florenz zu arbeiten, die damals noch ein Fiat-Werk war. Er war dabei, als die Fabrik ein Werk des Autozulieferers GKN wurde, und auch, als die Arbeiter 2021 beschlossen, gegen die Schließung ihrer Fabrik zu streiken. Der 60-Jährige ist einer der Ältesten unter den Metallern der Ex-GKN. Die Arbeiter wollen den Betrieb in eine gemeinwohlorientierte Genossenschaft umwandeln und in Zukunft beispielsweise Lastenräder und Solarpanels produzieren.

Das müssen Sie erklären.

Man darf nicht unterschätzen, welche Sprengkraft in diesem Ausdruck enthalten ist. Ein Genosse ist jemand, der sein Brot mit dir teilt, ein Wegbegleiter. Ein Genosse zu sein, bedeutet für mich, für andere da zu sein. Es bedeutet, sowohl Schmerz als auch Freude zu teilen. Es ist der höchste Ausdruck wahrer Freundschaft, nicht nur ein Etikett. In der Einfühlsamkeit, der Gemeinschaftlichkeit und dem Gerechtigkeitssinn, die es bedeuten, ein Genosse zu sein, sehe ich sehr wohl etwas, das dieser Arbeitskampf und meine Spiritualität gemeinsam haben.

Können Sie das näher erklären? Was genau hat Ihr Glaube mit der sozialökologischen Transformation dieser Metallfabrik zu tun?

Das Kollektiv will zum Beispiel eine sozialökologische Transformation, hierin ist eine klare Bewegung hin zur Natur enthalten. Es gibt zu viele Menschen, die sich selbst als spirituell bezeichnen, die aber keinerlei soziale Arbeit leisten und sich nicht für das Wohl der anderen einsetzen. Genauso wie es zu viele gibt, die glauben, das System ändern zu können, ohne sich selbst zu ändern. Persönlich denke ich, dass sie beide sehr falsch liegen. Es gibt kein inneres Wachstum ohne äußeres Engagement, so wie es keine äußere Veränderung ohne innere Veränderung geben kann. Ich glaube nicht, dass man einen bestimmten Glauben oder intellektuelle Bildung braucht, um das zu verstehen.

Viele Arbeiter sind erschöpft von diesem so langwierigen Arbeitskampf. Sie erhalten keinen Lohn mehr. Wie geht es Ihnen und Ihren Familien?

Wir sind jetzt 15 Monate ohne Lohn oder Abfindung, aber die Solidarität ist groß. Viele Familien befinden sich in ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten, und einige Arbeiter mussten kündigen, aber der entschlossenste Teil kämpft unbeirrt weiter. Wie der gute John Belushi einmal sagte: »When the going gets tough, the tough get going.« - »Wenn es hart auf hart kommt, kommen die Harten in Fahrt«.

Vom 4. bis 6. April findet auf dem Werksgelände das Literaturfestival der Arbeiterklasse statt. Wieso veranstalten Sie als Fabrikkollektiv ein Literaturfestival?

Es ist das dritte Working Class Literature Festival, und zu dem Festival gehört auch die Demo am 5. April. Kultur ist wichtig, Kunst ist wichtig, Schönheit ist wichtig, Kreativität im Allgemeinen ist wichtig. Alles, was Schönheit und Empathie ausdrückt, kann eine konvergierende Anziehungskraft und ein Gegenmittel zu allem sein, was Barbarei ist. Sei es Ausbeutung, Krieg, all diese unfassbare Aufrüstung und die Ablenkungsmanöver angesichts all der laufenden Massaker. Aber wir machen so ein Literaturfestival von Arbeitern auch, um dem liberalen Entwurf etwas entgegenzusetzen, in dem das Kulturelle von einer festgesetzten Elite dominiert wird. Dann sind es wenige Privilegierte, denen die kulturellen Räume gehören. Jeder von uns muss auch hier seinen Einsatz zeigen und Hindernisse überwinden, damit wir als Arbeiter die herrschende Klasse der Zukunft werden.

Das Fabrikkollektiv hat eine Genossenschaft gegründet. Kann jeder Genosse werden?

Um Mitglied zu werden, kann man auf unsere Website Insorgiamo.org gehen. Dort kann jeder Anteile zeichnen und so Mitglied der Genossenschaft werden. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen in Deutschland, die diese Entscheidung schon getroffen haben, und ich danke ihnen von ganzem Herzen! Wenn diese Genossenschaft eines Tages das Licht der Welt erblicken wird, dann wird das auch jenen Menschen zu verdanken sein, die an unseren Traum von einer anderen Fabrik geglaubt haben. Manchmal führt der Weg zu einem Traum eben über die Gründung einer Genossenschaft. Wir wissen, dass es nicht einfach sein wird, weil wir es mit einem aggressiven Markt zu tun haben werden, auf dem Ausbeutung oft die Norm ist. Aber wir müssen es trotzdem versuchen und dürfen nicht aufgeben.

Was wollen Sie in den nächsten Monaten erreichen?

Wir wollen den Plan für die sozial integrierte Fabrik weiterverfolgen, weiter zusammenrücken als Kollektiv und als Individuen. Aber auch als Nachbarschaft und Region. Denn sozial integriert zu sein, heißt nicht nur, ein ökonomischer Betrieb zu sein, sondern vor Ort Verantwortung zu übernehmen. Als 2023 Fluten die Toskana heimsuchten, unterbrachen wir unseren Arbeitskampf, um bei den Rettungsarbeiten zu helfen. Wir holten unter anderem die Bücher einer Bibliothek aus dem Wasser. Diese Vision einer sozial integrierten Fabrik bedeutet, dass ich nicht nur unseren Kampf, sondern auch andere Bewegungen und Initiativen unterstützen möchte. Das alles hier lässt sich nur gewinnen, wenn wir einander helfen. Mir stellt sich auf diesem Fabrikgelände immer wieder die Frage, was für ein Mensch ich sein möchte. Diese Frage möchte ich an alle weitergeben. Das war’s, Bruder. Was gibt es noch zu sagen? Frieden, Liebe und Revolution!

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.