Der Wandel muss rasch kommen

Bernadette Ségol fürchtet, dass die EU und ihre Mitgliedsstaaten die Chance verpassen, die Austeritätspolitik zu revidieren

  • Bernadette Ségol
  • Lesedauer: 3 Min.

Deutschland schwächelt, Frankreich stagniert und Italien ist zurück in der Rezession. 25 Millionen Menschen in der EU sind arbeitslos und die meisten von ihnen haben keine Perspektive, in nächster Zeit wieder einen Job zu bekommen. Es ist kein Zufall und auch kein Naturgesetz, dass die einfachen, arbeitenden Leute den Preis der Krise zahlen. Es ist die von der EU und den Regierungen der Mitgliedsstaaten beschlossene Politik, auf die Krise vor allem mit der Einsparung staatlicher Ausgaben zu reagieren – was weniger Jobs zur Folge hat. Weitreichende Lohn-, Beihilfe- und Rentenkürzungen bedeuten, dass viele Menschen weniger Geld haben. Also leidet die Wirtschaft. Diese sogenannte Heilung hat sich, wenig überraschend, nicht als Lösung des Problems erwiesen.

Die europäische Gewerkschaftsbewegung hat von Anfang an argumentiert, dass Austerität kein Weg aus der Krise ist und dass Investitionen dringend gebraucht werden, um Wachstum und anständige neue Jobs zu schaffen. Nun scheint es, dass diese Botschaft langsam ankommt. Einkommensungleichheit ist erstmals seit Jahrzehnten ein heißes politisches Thema. Von Papst Franziskus über Christine Lagarde und bis hin zum französischen Akademiker Thomas Piketty äußern alle ihre Bedenken.

Noch wichtiger: Der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sein Arbeitsprogramm mit dem Titel «Ein Neustart für Europa» überschrieben. Ein Grund mag gewesen sein, dass er um Zustimmung in dem leicht nach links gerückten EU-Parlament geworben hat. Aber er machte auch klar, dass im Umgang mit der Krise «Fehler gemacht wurden» und es «einen gewissen Mangel an sozialer Fairness» gab.

Als Antwort darauf versprach er, «ein ambitioniertes Beschäftigungs-, Wachstums- und Investitionspaket in den ersten drei Monaten seines Mandates (das im November beginnt) zu präsentieren. Er verpflichtete sich auch auf einen »faireren Binnenmarkt mit gestärkter industrieller Basis« sowie zu einer »faireren Wirtschafts- und Währungsunion«. Noch kennen wir die Details von Junckers Programm nicht und ich habe meine Zweifel daran. Aber es sieht alles nach einem Wandel zur Politik der letzten Kommission aus und nach einer Chance für überfällige Maßnahmen.

Sollte es hingegen keine substanzielle Kursänderung mit Investitionen in Wachstum und Beschäftigung, der Verringerung von Ungleichheit und der Schaffung eines sozialeren und demokratischeren Europa geben, könnte die Situation für die Bürger, die EU sowie die Mainstream-Parteien katastrophal werden.
Die Austeritätsprogramme der EU haben versagt. Sie sorgen für eine soziale Krise, für Arbeitslosigkeit, Armut trotz Arbeit, Ungleichheit und Migration vieler junger Menschen. Dies verursacht wiederum einen Vertrauensverlust in die EU und führt zu einem ernsthaften Risiko einer politischen Krise.

Die Anzeichen dafür sind zu erkennen: In Frankreich ist die rassistische Front National stärkste Partei. In Großbritannien wird der politische Diskurs nicht von Konservativen oder Labour gesetzt, sondern von der EU-feindlichen Unabhängigkeitspartei UKIP. Der Zulauf für Eurokritiker, Kräfte von Rechtaußen (und in gewissem Maß für die radikale Linke) bei der Europawahl ist hauptsächlich ein Zeichen an die Mainstream-Parteien und ihre gescheiterte neoliberale Wirtschaftspolitik.

Die laufenden Verhandlungen zum Transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) bergen weitere Gefahren. Während wir grundsätzlich engere Handelsbeziehungen mit den USA gutheißen, darf ein Abkommen soziale und Umweltstandards nicht aushöhlen. Es muss vielmehr beiderseits des Atlantiks die Rechte von Arbeitnehmern verteidigen und verbessern.

»Ich glaube fest an die soziale Marktwirtschaft«, hat Juncker im EU-Parlament gesagt. Und fügte hinzu: »Es ist nicht mit der sozialen Marktwirtschaft vereinbar, dass Reeder und Spekulanten in der Krise reicher werden, während Rentner nicht mehr genug Geld haben, um ihr Leben zu bewältigen.« Das ist aber genau das, was passiert ist und Herr Juncker (und das Parlament sowie die neue Kommission) haben nur begrenzt Zeit, dies zu richten. Andernfalls werden sie zusehen, wie die Macht an jene von Front National und UKIP übergeht – mit noch schwerwiegenderen Auswirkungen für Europas Bürger und seine Wirtschaft.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -