Die einst gerufenen Geister loswerden
Folge 42 der Ostkurve: In der fünften Liga kämpft der 1. FC Lok Leipzig um seinen guten Ruf und die Rolle als zweite Kraft in der Stadt
Leipzig. Man soll sich vor Schnellurteilen hüten, aber der 8. August 2014 kann als stellvertretend für die jüngere Geschichte des 1. FC Lokomotive Leipzig gelten. Vieles, was gut ist an der »Loksche«, gab es beim Saisonauftakt in der NOFV Oberliga Süd zu erleben. Und vieles, was dem Klub an Schlechtem nachgesagt wird, auch. Der 1893 als VfB Leipzig gegründete Traditionsverein aus dem Stadtteil Probstheida empfängt den SSV Markranstädt. 3146 Fans sind zum Fünftligakick gekommen, lassen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. In der ersten Hälfte sehen sie eine hasenfüßige Vorstellung des von Heiko Scholz trainierten Regionalligaabsteigers.
»Das darf doch nicht wahr sein!« ruft einer auf der 1932 erbauten, denkmalgeschützten Holztribüne. »Nicht so ängstlich, Junge!« schreit ein anderer. Immerhin, nach der Halbzeitpause schalten die Blau-Gelben zwei Gänge höher. Kapitän Markus Krug verpasst mit einem Schuss von der Strafraumgrenze die beste Möglichkeit zur Führung. Am Ende bleibt es beim torlosen Remis, die Anhänger spenden trotzdem tosenden Applaus.
Es hätte ein versöhnlicher Abschluss sein können. Doch vor dem Spiel sind an der Anzeigetafel und am Polizeicontainer Graffitis mit dem Wortlaut »Wir lassen uns nicht verbieten, Scenario Lok« aufgetaucht. »Scenario« ist eine 2005 gegründete Fangruppierung mit Schnittmengen zu NPD und Jungen Nationaldemokraten. »Scenario« wird im sächsischen Verfassungsschutzbericht von 2013 als Teil der »subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene« Leipzigs bezeichnet.
Nach gewalttätigen Ausschreitungen beim SV Babelsberg 03 im August 2013 war die Gruppe mit einem Erscheinungs- und Auftrittsverbot im Bruno-Plache-Stadion belegt worden. Gegen einzelne Mitglieder sprach Lok Hausverbote aus. Damit versucht der seit Frühjahr 2013 tätige Vorstand um Präsident Heiko Spauke und Vize René Gruschka ein Zeichen zu setzen, das in den Jahren seit der Lok-Wiedergründung 2003 überfällig war. Zu lange hatte die Vereinsführung weggesehen oder war nicht konsequent genug vorgegangen - auch weil unter dem früheren Präsidenten Steffen Kubald anfangs jeder Helfer und jeder Euro willkommen war, unabhängig der Gesinnung. Es ist ein Kraftakt, die einst gerufenen Geister nun wieder loszuwerden.
Da schwelgt so mancher Fan lieber in Erinnerungen an die alten Recken: Manfred Geisler, Henning Frenzel, Matthias Liebers oder René Müller - alles Nationalspieler, die einst das blau-gelbe Leibchen trugen. Der vierfache FDGB-Pokalsieger und dreifache Vizemeister ist eine der großen Nummern des Ostfußballs, stand 1987 als dritter DDR-Klub in einem Europokalfinale. Mit einem 0:1 gegen Ajax Amsterdam scheiterte das Team um Schlussmann René Müller in Athen im Pokalsiegerwettbewerb zwar knapp, dennoch ist es der größte Triumph der Vereinsgeschichte - eine selige Erinnerung.
2014 heißen die Gegner Neugersdorf, Bernburg oder Markranstädt. Nach der Rückbenennung in VfB Leipzig 1991 war in der letzten DDR-Oberligasaison noch die Qualifikation für die gesamtdeutsche 2. Bundesliga gelungen. 1992/93 folgt ein letzter großer Erfolg, als tatsächlich der Aufstieg in die erste Bundesliga gelingt. Für die Mannschaft um Dirk Anders, Jürgen Rische und Steffen Heidrich geht es in der Folgesaison mit nur drei Siegen aber schnurstracks wieder abwärts.
Es folgen bittere Jahre: der Abstieg bis in die Oberliga, ein Millionen-Schuldenberg, die erste Insolvenz 1999. Fünf Jahre später folgte mit der zweiten Insolvenz die Abwicklung. Und die Geburtsstunde des durch Fans gegründeten neuen FC Lok. In der 11. Liga.
Unverhofft taucht zudem für Lok 2009 ein neuer Rivale auf, als der österreichische Softdrink-Milliardär Diedrich Mateschitz plötzlich Millionenbeträge in das Fußballprojekt RasenBallsport Leipzig e.V. pumpt. Ein harter Schlag für Lok, das sich mit etlichen Zuschauerrekorden aus der 3. Kreisklasse zurück in die Oberliga geackert hat und wieder die unumstrittene Nummer eins der Stadt sein wollte. Ein auf Dauer unbesiegbarer Rivale füllt seither immer mehr Plätze im einstigen Zentralstadion, das schon bald nach dem Umbau in Red Bull Arena umbenannt wird.
Bis heute verachten die Lok-Fans den »Brauseklub« - und erst recht das Stadionsponsoring. »Für kein Geld der Welt würden wir unseren Stadionnamen oder unsere Vereinsfarben verscherbeln«, sagt René Gruschka. Er ist seit 40 Jahren Lok-Fan. »Tradition kann man sich nicht kaufen.« Tradition ist bei Lok auch die erbitterte Rivalität mit FC Sachsen bzw. Chemie Leipzig. »Der Leipziger Fußball war lange durch ritualisierte Feindschaften und teils gewalttätige Auseinandersetzungen geprägt. Das schlichtweg fußballinteressierte Publikum hatte keine Lust mehr, zwischen die Fronten zu geraten«, begründet die Sportsoziologin Petra Tzschoppe den großen Zuspruch für RB. Der neugegründete Klub biete sowohl die Aussicht auf größere sportliche Erfolge als auch eine friedvollere Atmosphäre in einer modernen Fußballarena.
Das alte Bruno-Plache-Stadion der »Loksche« hat hingegen seine besten Tage schon lange hinter sich. Auf der baufällig wirkenden Tribüne riecht es nach altem Holz, Balken biegen sich unter den ausgelegten Matten. Schilder fordern absolutes Rauchverbot, darunter sind Feuerlöscher für den Notfall aufgehängt. In stillgelegten Blöcken wuchert Gras über Beton. Das »Bruno«, wie es die Lok-Fans liebvoll nennen, besitzt Charme: »Das Bruno ist wie ein alter Kuhstall«, sagt ein Fan, »es riecht etwas, aber dafür ist es auch schön warm.«
Überhaupt die Fans: Der Vorstand besteht aus langjährigen Anhängern, die Hierarchien sind flach. »Wir sind stolz darauf, mitgliedergeführt zu sein. Wir sind stolz, wie unsere Mitglieder bei der Renovierung des Stadions angepackt haben«, betont Vizepräsident René Gruschka, der sich sechs Stunden am Tag nach seiner regulären Arbeit ehrenamtlich engagiert. Kaputte Scheiben in der Trainingshalle? Ein Fan spendiert die neue Verglasung. Putz blättert von den Stadionwänden? Anhänger erledigen das in Eigenregie. Spendensammeln für Nichtabstiegsprämien? Machen die Vereinsmitglieder. Es sind kleine Dinge wie diese, die in der Summe eine große Wirkung erzielen. Bei Lok mag alles etwas schmuddeliger sein als andernorts, dafür herrscht unter den 1585 Mitgliedern ein großes Zusammengehörigkeitsgefühl. Man kennt sich von Arbeitseinsätzen, der Arbeit in Fangremien oder Auswärtsfahrten.
Die Entwicklungen der letzten zwei Jahre machen vielen Lok-Anhängern Hoffnung: Der professionell arbeitende Vorstand und Trainer Heiko Scholz strahlen Kontinuität aus, Sponsoren verlieren Berührungsängste, der junge Kader gilt als einer der stärkeren der Liga. Der Schlüssel ist die Jugendarbeit, die der Deutsche Olympische Sportbund schon 2008 ausgezeichnet hat. Trotz eines Aderlasses zu RB wird man auf Dauer wohl von deren exzellent ausgebildeten Kickern profitieren, denn nicht alle Talente werden es dort packen. Im Windschatten des ungeliebten Konkurrenten will Lok als zweite Leipziger Kraft irgendwann in der 3. Liga ankommen, so die Vision.
Bleibt der Problemfall »Scenario«. Nachdem das Auftrittsverbot vor wenigen Wochen unbefristet verlängert wurde, häuften sich Sachbeschädigungen auf dem Vereinsgelände wie aufgeschlitzte Autoreifen. Es soll gar Drohungen gegen Funktionäre gegeben haben. Ein Zeichen setzt die Ultra-Gruppierung »Fankurve 1966«, die sich gegen menschenverachtendes Gedankengut einsetzt. Im Stadion sind sie bisher ein versprengtes Häufchen von kaum 30 Mann, umso energischer feuern sie ihre Loksche an. »Es ist ein ermutigendes Signal, dass sich Fans trotz des teils problematischen Umfeldes für Toleranz engagieren«, sagt Linken-Stadträtin Jule Nagel, die Lok seit Jahren kritisch begleitet. Sie sieht in den Maßnahmen der Vereinsführung eine überfällige aber angemessene Antwort auf die Bedrohung von Rechts - wenn sie weiter konsequent umgesetzt werden. Nagel plädiert daher für eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Klub, abseits des Klischees als Nazi-Verein. »300 Kinder und Jugendliche aus 26 Nationen treiben bei uns Sport«, seufzt René Gruschka, »aber über Lok wird meist nur berichtet, wenn es Probleme gibt.«
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