»Ich war neunzehn ...«

Erhard Stenzel erzählt über seinen Kampf in der Résistance. Aufgeschrieben von Karlen Vesper

Erhard Stenzel, 89, war bis Mai d. J. Stadtverordneter in Falkensee.
Erhard Stenzel, 89, war bis Mai d. J. Stadtverordneter in Falkensee.

Es war kurz vor Mitternacht. In Rouen. Am 3. Januar ’44. Ich war Streifenführer. Mir zugeteilt waren zwei frisch aus dem »Reich« gekommene Soldaten, die noch an »Sieg heil!« glaubten. In einer Seitenstraße stoppte ich und sagte zu den beiden: »Für mich ist jetzt Schluss. Ich kehre nicht in die Kaserne zurück, ich gehe lieber in die Gefangenschaft. Wenn ihr den Krieg überleben wollt, könnt ihr euch anschließen.« Sie schauten mich perplex an. Da nahm ich meine Maschinenpistole von der Schulter: »Ich will euch nichts tun. Legt eure Karabiner vorsichtig auf das Pflaster. Und dann kehrt ihr ganz langsam zur Kaserne zurück. Wenn ihr losrennt, schieße ich euch in die Beine.« Sie taten, was ich ihnen befahl, trotten gemächlich davon. Ich aber rannte los, drei, vier Straßenzüge weiter. Dort wohnte ein Schuster, der mir einige Male meine Stiefel besohlt hatte und mit dem ich ins Gespräch gekommen bin. Ein Deutscher aus Elsass-Lothringen, der eine Französin geheiratet hatte. Ich klingelte. Er öffnete. Und war erstaunt: »Du? Mitten in der Nacht? Und schwer bewaffnet.« Außer meiner MPi hatte ich die Gewehre meiner Streifenbegleiter mitgenommen. Der Schuster setzte sich sofort ans Telefon. Fünf Minuten später hielt ein Auto vor seinem Laden: Leute von der Résistance, die sich natürlich sehr über die Waffen freuten.

Ich wurde zwei Stunden lang durch einen Wald kutschiert. Und dann ausgiebig verhört: »Wer bist du, woher kommst du, was willst du?« Die nehmen natürlich auch nicht die Katze im Sack. Ich erzählte, dass ich am 5. Februar 1925 in Freiberg, einer Bergarbeiterstadt in Sachsen, geboren wurde, meine Mutter Textilarbeiterin ist und mein Vater Metallarbeiter, Gewerkschafter und Kommunist und am 2. Mai 1933 inhaftiert wurde, zunächst in die Festung Hohenstein und dann nach Bautzen kam und jetzt im KZ Buchenwald sitzt. Und dass auch ich gegen Hitler kämpfen will. Sie sagten: »Gut, wir nehmen dich.« So wurde ich Mitglied der Résistance und der Französischen Kommunistischen Partei. Ich war neunzehn.

Bis Juni 1944, bis zur Landung der Alliierten in der Normandie, kämpfte ich in einer bunten Truppe mit Luxemburgern, Österreichern, Schweizern und Franzosen. Wir waren zwei Deutsche in unserer Fünfziger-Gruppe: Heinz Henker aus Dresden und ich. Wir sprengten Brücken und Munitionsdepots, überfielen Wehrmachtstransporte und piesackten die Okkupanten, wo wir nur konnten. Nach dem D-Day wurden wir einer US-Einheit zugeteilt. Und da haben wir die 2. SS-Panzerdivision »Das Reich« vor uns hergetrieben.

Am 23. August erreichten wir einen Vorort von Paris, zwei Tage später kämpften wir im Zentrum. SS und Gestapo ermordeten noch in den letzten Stunden vor der Befreiung Hunderte Franzosen. Das steigerte nur unsere Entschlossenheit. Schließlich kapitulierte der deutsche Stadtkommandant. Am 26. August gab es einen Triumphzug durch Paris. Auf dem Eiffelturm und dem Arc de Triomphe wehte die Trikolore. Die Boulevards und Plätze säumten Menschenmassen, die den vorbeimarschierenden und vorbeifahrenden, bewaffneten Kämpfern zujubelten, ihnen Blumen zuwarfen, sich umarmten und küssten. Auch ich stand mit Heinz im Spalier. Wir hatten Tränen in den Augen. General de Gaulle sah ich nicht. Er soll an diesem Tag zwar in Paris eingetroffen sein und auch eine Rede gehalten haben, mit der er aber die Forces françaises de l’intérieur, die Résistance, brüskierte. Weil er ihren maßgeblichen Verdienst an der Befreiung unterschlug. Er hat sich garantiert nicht auf offene Straße gewagt. Es gab noch heftige Schießereien und Detonationen. Die konnten wir trotz der lautstarken Siegesparolen und des vielstimmigen Gesangs der Marseillaise hören. Die SS leistete in einigen Stadtvierteln und Vororten noch fanatischen Widerstand.

Wir mussten dann bald weiter. Am 31. August wurde Rouen befreit, die Stadt, in der ich aus der Wehrmacht desertiert bin. Und am 12. September Le Havre. Wir schlugen uns durch Belgien. An der deutschen Reichsgrenze angelangt, schickte unser Kommandeur Heinz und mich weg, zu den rückwärtigen Diensten. Sicher nicht, weil er uns misstraute. Vielleicht wollte er uns schonen. Den 8. Mai 1945 erlebte ich in Rouen. Erneut feierten wir mit unseren französischen Freunden, gönnten uns auch ein paar Flaschen Bordeaux und Cidre. Ich besuchte die prächtige Kathedrale. Und erstmals schliefen wir fürstlich in den besten Hotels, in sauberen, weichen Betten. Zuvor hatten wir stets nur auf kaltem Waldboden oder harten Pritschen genächtigt.

Nachdem Heinz und ich uns noch ein paar Tage Paris angeschaut hatten, ging’s ab nach Hause. Ich war erschüttert, als ich die Trümmerwüste Berlin sah, das zerbombte Dresden und zerstörte Chemnitz. Umso überraschter war ich, dass Freiberg kaum Schaden erlitten hatte. Ich war froh, dass mein jüngerer Bruder nicht mehr eingezogen worden ist. Dafür hatte Mutter eine böse Nachricht für mich: Vater ist im Oktober ’44 in Buchenwald ermordet worden ...

Ich arbeitete zunächst als Schriftsetzer. Danach hatte ich viele Jobs. Im Druckerei- und Verlagswesen, bei der Reichsbahn und beim FDGB. Ich durfte immer nur Stellvertreter sein. In der DDR galten jene, die auf westalliierter Seite kämpften, als suspekt. Als ich 1990 Kreisvorsitzender der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft in Falkensee wurde, ein Ehrenamt, das keiner mehr wollte, empfing ich Veteranen der Roten Armee, die von Stalingrad bis nach Berlin marschiert sind. Sie freuten sich: »Towarisch Stenzel, du bist einer von uns. Du hast bei unseren Alliierten gekämpft.« Ja, wir standen in einer Front gegen den Faschismus. Und heute? Neofaschisten in fast allen Parlamenten Europas. Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ist eisiger als in der kältesten Zeit des Kalten Krieges. Das ist schlimm. Ich hoffe, dass es nicht wieder Krieg in Europa gibt.

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