Privater Waffenbesitz ist verbreitet

Antonio J. González Plessmann über Gewalt und soziale Ungleichheit in Venezuela

  • Lesedauer: 4 Min.
Antonio J. González Plessmann ist Soziologe und langjähriger Menschenrechtsaktivist. Er leitet den Bereich »Zusammenleben, Menschenrechte und städtische Sicherheit« bei dem Forschungsinstitut GIS XXI in Caracas. Über die trotz sozialer Fortschritte zunehmende Gewalt in Venezuela sprach mit ihm für »nd« Tobias Lambert.

nd: Obwohl sowohl die Armut als auch die Ungleichheit in den vergangenen Jahren in Venezuela deutlich zurückgegangen sind, hat die Gewaltkriminalität vor allem in den größeren Städten stetig zugenommen. Venezuela hat heute eine der höchsten Mordraten in Lateinamerika. Wie ist das zu erklären?
González: Die Armut und die Ungleichheit zu verringern, reicht nicht aus. Statistisch gesehen weist die Armutsrate gar keine direkte Verbindung zur Anzahl von Morden auf, die Ungleichheit allerdings schon. Das heißt aber nicht, dass Ungleichheit die einzige oder wichtigste Ursache wäre.

Welche Ursachen spielen in Venezuela eine Rolle?
Wie überall auf der Welt sind es eine Reihe struktureller, institutioneller und situationsbedingter Faktoren, die sich gegenseitig verstärken. Zu den strukturellen Faktoren, die die größten Auswirkungen haben, gehört die sozioökonomische und kulturelle Ausgrenzung von über einer Million Jugendlichen, die weder arbeiten noch studieren. Eine Ausgrenzung, die in einem sehr stark von Konsum und Machismus geprägten Kontext besonders schwer wiegt.

Diesen Ausschluss eines bedeutenden Teils von Jugendlichen aus den einfachen Schichten gibt es trotz der Fortschritte, die die bolivarianische Regierung im Bereich sozialer Inklusion erreicht hat, weiterhin. Diese Jugendlichen sind anfällig dafür, in der Gewalt ein Mittel zu sehen, um unter ihresgleichen Anerkennung zu erlangen und an Geld zu kommen, um sich ein konsumorientierteres Leben zu leisten, das ihren Status erhöht.

Und die anderen Faktoren?
Auf institutioneller Ebene sind das die Korruption bei der Polizei, das Klassendenken im Justizsystem einschließlich harter Strafen für Kleinkriminalität, wie zum Beispiel beim Besitz geringer Mengen an Drogen. Bei den Sicherheitskräften ist Korruption nach wie vor weit verbreitet. In einfachen Vierteln gibt es zum Beispiel Allianzen zwischen Polizei und kleineren Drogenhändlern.

Das Klassendenken in der Justiz drückt sich durch die Selektivität aus. Wie eh und je verhandelt sie Straftaten der Ärmsten, während sie bei den Mächtigen toleranter ist. Die große Mehrheit der eingesperrten Personen sind Jugendliche aus einfachen Verhältnissen, oft wegen geringer Delikte. Wenn jemand wegen einer kleinen Menge Drogen ins Gefängnis kommt, erhöht sich dadurch die Gefahr, dass er eine kriminelle Laufbahn einschlägt. Ein wichtiger, situationsbedingter Faktor ist der verbreitete Waffenbesitz bei Privatpersonen.

Es gibt Stimmen, die auch der Regierung eine Mitschuld geben. Etwa, weil sie Waffen an chavistische Basisorganisationen ausgegeben, diese aber nie wieder eingesammelt habe, und nichts gegen bewaffnete Gruppen innerhalb des Chavismus unternehme.
In einer allgemein als glaubwürdig anerkannten öffentlichen Studie von 2009 taucht nicht eine einzige bewaffnete Gruppe auf, die der Regierung nahe steht. Wer behauptet, dies sei ein bedeutendes Element, um die Morde in Venezuela zu erklären, handelt mit schlechten Absichten oder ist desinformiert.

Venezuela ist eine Gesellschaft mit einer hohen Anzahl von Waffen in den Händen von Privatpersonen. Die meisten dieser Waffen sind aber aufgrund des Drucks der Mittel- und Oberschicht, die sich aufgrund ihrer Furcht vor Unsicherheit intensiv bewaffnet hat, ganz legal ins Land gekommen. Paradoxerweise wurden viele dieser Waffen gestohlen und tragen heute ihren Teil zum Anwachsen des Problems bei. Dabei sind sowohl in Venezuela als auch im übrigen Lateinamerika überwiegend Jugendliche aus den einfachen Vierteln die Opfer. Die Gewalt findet in erster Linie innerhalb der Unterschicht statt und nicht zwischen den Klassen.

Dennoch war die öffentliche Sicherheit eines der Gebiete, auf denen die Regierung des im März 2013 verstorbenen Hugo Chávez am wenigsten getan hat. Wie kommt das?
Das ist so nicht richtig. Aber die Regierung hat sich mit dem Thema auf eine naive Art und Weise beschäftigt, indem sie glaubte, dass eine höhere soziale Gerechtigkeit automatisch zu einer Verringerung der Gewalt führt.

Da dies nicht so war, kam ab 2006 mit dem Beginn der Polizeireform ein weiterer Ansatz hinzu. Die Polizei begeht selbst mehr als zehn Prozent der Morde in Venezuela und arbeitet in den Fällen, an denen Polizisten beteiligt sind, nachlässig. Im Jahr 2012 stellte Chávez dann mit der »Gran Misión A Toda Vida Venezuela« seine Vision im Bereich der öffentlichen Sicherheit vor, die das Thema umfassend behandelte. Basierend auf den Menschenrechten kombiniert sie in sechs Eckpunkten und 29 strategischen Leitlinien ganzheitliche Prävention mit strafrechtlicher Kontrolle. Leider wurde dieses Programm bis heute nicht umgesetzt. Auch die Polizeireform ist seit 2012 ins Stocken geraten.

Anfang des Jahres hat die Regierung den Plan Patria Seguro (»Sicheres Heimatland«; Anm. der Red.) aufgelegt, mit dem die Kriminalität verringert werden soll. Mit Erfolg?
Der Plan hat gute Resultate gezeigt, ist aber auf alle Fälle unzureichend, da er nur auf einer verstärkten Polizeipräsenz beruht. Chávez’ Reifeprozess im Bereich der öffentlichen Sicherheit hat sich anscheinend nicht auf die neue Regierung übertragen.

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