Islamischer Staat schwappt rüber
Nachrichtendienst stellt Sympathisanten für Kalifat fest / Über 60 Dschihadisten ausgereist
Es ist eine Debatte, die nach dem Anschlag eines Anhängers des Islamischen Staates (IS) in Brüssel auch in Berlin die Gemüter bewegt. Wie gefährlich sind die radikalisierten Islamisten, die aus den Kriegen in Syrien und dem Irak nach Europa zurückkehren? »Treffen Medienmeldungen zu, dass in Berlin die sogenannte ISIS erhebliche Aktivitäten entfaltet und Kämpfer rekrutiert?«, fragt beispielsweise aktuell der Linkspartei-Abgeordnete Hakan Taş in einer parlamentarischen Anfrage die Berliner Innenbehörden. Hintergrund für die Anfrage sind gewalttätige Konflikte im August in Berliner Flüchtlingsheimen und Zusammenstöße auf Demonstrationen von Kurden in der Hauptstadt, bei denen mutmaßliche Anhänger des Islamischen Staates am Rande der Aufzüge provozierten.
Medial für besonderes Aufsehen sorgt unterdessen die Internetpropaganda des ehemaligen Berliners Denis Cuspert, der sich ein paar Jahre als Rapper »Deso Dogg« versuchte. Über dessen »Karriere« als Dschihadist hat der Berliner Verfassungsschutz jüngst eine 25-seitige Lageanalyse veröffentlicht. Cuspert, der sich jetzt »Abu Talha al Almani« nennt, kämpft aktuell für den IS in Syrien, möglicherweise war er dabei auch an Kriegsverbrechen beteiligt, das legen zumindest Videoaufnahmen von getöteten Zivilisten auf einem syrischen Gasfeld nahe, deren Leichen Cuspert im Anschluss an einen Angriff des IS vor laufender Kamera schändet.
Auf der inzwischen gelöschten Internetseite »Islamischer Staat Berlin« bei Facebook, über die »nd« bereits Anfang August berichte, etwa fand sich eine Solidaritätsadresse an den »Bruder Abu Talha al Almani«. »Die Facebook-Gruppe hat aber mit dem Islamischen Staat in keinem organisatorischen Zusammenhang gestanden«, erklärte Innenstaatssekretär Bernd Krömer (CDU) am Mittwoch im Verfassungsschutzausschusses. In dem Gremium des Abgeordnetenhauses waren die »Aktivitäten und Anhänger des IS« in Berlin Thema. Eine Unterrichtung über die Erkenntnisse fand hauptsächlich im geheimen Teil der Sitzung statt. Was im öffentlichen Teil der Sitzung gesagt wurde, deutet allerdings daraufhin, dass der Nachrichtendienst seine Position aus dem August, es gebe »aktuell keine Belege für Aktivitäten des ›Islamischen Staats‹ (IS, ISIS, ISIL) in Berlin« wohl jetzt modifiziert.
Zwar stuft die Innenbehörde laut Staatssekretär Krömer den »Aktionsraum des IS in Bezug auf Deutschland und Berlin« weiter als »gering« ein, auch wenn Deutschland und damit Berlin als enger Verbündeter der Vereinigten Staaten und Israels im potenziellen Zielspektrum des IS steht. Doch auch in der Hauptstadt verzeichnet der Verfassungsschutz vermehrt Sympathiebekundungen für die Steinzeit-Islamisten.
Neben deutschsprachiger Propaganda über die sozialen Medien, werden auch Personen in Berlin wahrgenommen, »die sich positiv zum IS äußern«, sagte Verfassungsschutzchef Bernd Palenda. »Die internationale Entwicklung hat dazu geführt, dass auch nach Berlin entsprechende Signale und entsprechende Auseinandersetzungen rüberschwappen.« Insofern seien solche Auseinandersetzungen auch in Zukunft zu befürchten. Eine Struktur sei trotz der Reihe von Anhängern, die sich positiv zu IS äußern, aber noch nicht zu erkennen, betonte der Verfassungsschutzchef. Dass die Propaganda der Islamisten in Berlin auf fruchtbaren Boden fällt, zeigt indes auch die von den Innenbehörden nach oben korrigierte Zahl der Islamisten, die aus Berlin nach Syrien ausgereist sind, um sich dort dem IS oder der Al-Kaida nahen Nusra-Front anzuschließen. Ihre Zahl hat sich inzwischen von über 50 auf über 60 erhöht. Die meisten von ihnen sind dem Nachrichtendienst namentlich bekannt, in der türkischen Grenzregion verliert sich aber häufig ihre Spur.
Der IS und die kurdische Gegenwehr beschäftigt auch die linke Szene. Am Freitag, den 12. September, findet um 19.30 Uhr eine Informationsveranstaltung zum Thema im SO36, Oranienstr. 190, Kreuzberg, statt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.