Übersetzung ins Verständliche

In Bremen überträgt ein Büro Behördentexte und Formulare in sogenannte Leichte Sprache

  • Irena Güttel, Bremen
  • Lesedauer: 4 Min.
Allein in Deutschland können 7,5 Millionen Menschen nicht richtig lesen und schreiben. Um ihnen bei einem selbstständigen Leben zu helfen, sind Übersetzungsdienste gefragt.

Wenn Nicole Papendorf mit der Straßenbahn in Bremen fährt, wird es schon mal schwierig. Ihr Rollstuhl ist dabei gar nicht das Problem. Es sind die Anzeigetafeln, die in den Zügen hängen und Fahrgästen Orientierung geben sollen. »Die Leuchtschrift läuft zu schnell. Viele Wörter sind schwierig«, sagt die 38-Jährige. Was andere Menschen auf einen Blick erfassen, muss sie mühsam entziffern. In der Schule hat Papendorf nie richtig lesen gelernt. Der Alltag ist für sie daher eine Herausforderung. Ob Bahnfahren, Briefe von der Bank oder die Speisekarte im Restaurant - bei allem braucht sie Hilfe.

So wie Papendorf geht es vielen Menschen. Weltweit können etwa 781 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Daran erinnert jährlich der Weltalphabetisierungstag am 8. September. In Deutschland leben den Angaben zufolge 7,5 Millionen Analphabeten. Manche von ihnen können gar nicht lesen oder schreiben. Der Großteil kann jedoch einzelne Wörter oder kurze Sätze entschlüsseln. Für längere Texte reicht es aber nicht.

Ihnen will das Bremer Büro für Leichte Sprache helfen. Fünf Übersetzer formulieren dort Gesetzestexte, Behördenbroschüren und andere Dokumente um. Kein Satz darf mehr als sechs Wörter haben. Komplizierte Grammatik, Fachbegriffe und Abkürzungen sind tabu. Ihre kritischste Leserin: Nicole Papendorf.

Als fest angestellte Testleser prüfen Papendorf und ihr Kollege Oliver Pagel, ob die Übersetzungen auch für Menschen mit Lesehandicap verständlich sind. Beide haben eine geistige Behinderung. Sie gehören neben Einwanderern, Demenzkranken und Analphabeten zur Zielgruppe des Büros für Leichte Sprache. Die Lebenshilfe hat die Einrichtung 2004 als bundesweit erste dieser Art gegründet. Beim Netzwerk Leichte Sprache sind inzwischen mehr als 25 ähnliche Initiativen aus Deutschland und Österreich registriert.

»Wir wollen den Menschen mehr Eigenständigkeit geben«, sagt Anne Wrede, Übersetzerin für Leichte Sprache in Bremen. Und damit auch ein Stück Würde zurück. Viele Betroffene schämen sich nämlich für ihr Manko und versuchen, es so gut wie möglich zu verbergen. »Wer sagt, dass er nicht ordentlich lesen und schreiben kann, gilt sofort als dumm«, erläutert Jan-Peter Kalisch vom Bundesverband Alphabetisierung. Deshalb bewegen sich viele Analphabeten zum Beispiel nur in bekannter Umgebung, um sich nicht an Straßenschildern orientieren zu müssen. Und im Restaurant tun sie so, als hätten sie die Lesebrille vergessen.

Die Hemmschwelle, einen speziellen Schreib- und Lesekurs für Analphabeten zu besuchen, ist wohl auch aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung so hoch. Deshalb geben sich viele erst relativ spät im Leben einen Ruck und melden sich für einen solchen Kurs an. »Die meisten sind über 40«, sagt Kalisch. Doch mit zunehmenden Alter wird es dann auch schwieriger, lesen und schreiben zu lernen. »Es dauert sehr lange, und man macht langsamere Fortschritte«, weiß Kalisch. Texte, die in Leichter Sprache verfasst sind, können da schneller zu den ersten Erfolgserlebnissen führen, die für einen weiteren Erfolg so wichtig sind.

Genau das ist das Ziel der »ABC-Zeitung«, die mehrmals im Jahr als Onlineausgabe erscheint. »Das ist eine Lektüre, die motiviert«, sagt Achim Scholz von der Volkshochschule in Oldenburg. Die Zeitung in Leichter Sprache erscheint seit 2008. Die Artikel schreiben Teilnehmer von Alphabetisierungskursen an der Volkshochschule und zunehmend auch andere Betroffene aus dem deutschsprachigen Raum.

Leichten Lesestoff bieten aber auch immer mehr Internetseiten, Sachbücher und Romane. Selbst an einer Übersetzung von Teilen der Bibel arbeitet die Bremer Lebenshilfe.

Nicole Papendorf ist froh, dass es die Leichte Sprache gibt. Nicht nur wegen ihres Jobs. Sie hat dadurch die Angst vor dem Lesen von Texten verloren. »Als ich von der Schule abgegangen bin, habe ich gesagt: So, ich lese nichts mehr, keine Bücher, keine Briefe, keine Rezepte.« Inzwischen traut sie sich, die Briefe von ihrer Bank oder der Krankenkasse selbst zu öffnen - auch wenn sie diese ohne Hilfe zumeist nicht verstehen kann.

Einen Brief in Leichter Sprache hat sie bisher noch nicht erhalten. »Das wäre total schön«, meint Papendorf. »Das wäre dann mein erster Brief, den ich alleine gelesen habe.« dpa/nd

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