Flucht vor der Verantwortung
Die Stromkonzerne müssen ihre Kernkraftwerke früher oder später rückbauen, doch die Finanzierung ist unsicher
Die leidige Frage bleibt: Wohin mit dem Müll? Über 50 Jahre haben die Energiekonzerne in Deutschland kräftig von der Atomkraft profitiert und jetzt, da ihr Ende naht, möchte niemand für die Überreste verantwortlich sein. Dabei ist das Wohin nicht das einzige ungelöste Problem; es bleibt die Frage, wie hoch die Folgekosten der Atomenergie ausfallen und wer sie bezahlen soll. Die Energieversorger Vattenfall, E.on, RWE und EnBW haben in ihren Bilanzen insgesamt 36 Milliarden Euro Rücklagen für die Stilllegung und den Rückbau der Atomkraftwerke sowie die Entsorgung radioaktiver Abfälle ausgewiesen: Laut Atomgesetz sind sie es, die im Sinne des Verursacherprinzips die Kosten der Altlasten zu tragen haben.
Eine am Donnerstag in Berlin vorgestellte Studie des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) im Auftrag des Umweltverbandes BUND hat die Rücklagen der Energiekonzerne unter die Lupe genommen. Ergebnis: Die Finanzierung der Atomenergiefolgekosten durch die Verursacher ist keinesfalls gesichert; der Steuerzahler läuft Gefahr, am Ende für die Mehrkosten aufzukommen. Von einer konsequenten Umsetzung des Verursacherprinzips sei man, so Thorben Becker, BUND-Energieexperte, ohnehin weit entfernt. »Schon jetzt zahlt die öffentliche Hand hohe Anteile der atomaren Altlasten, nämlich die Stilllegung und Entsorgung von Forschungsanlagen sowie die Folgekosten der Atomenergienutzung der DDR.«
Berlin. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace fordert, Atommüll aus dem Forschungszentrum Jülich in Nordrhein-Westfalen zu belassen und nicht in die USA zu transportieren. Ein von dem Bundesland und der Bundesregierung geplanter Transport des Atommülls in die USA sei rechtswidrig, erklärte Greenpeace am Donnerstag bei der Präsentation eines Rechtsgutachtens. Die Verschickung 152 hoch radioaktiver Castoren in die Wiederaufbereitungsanlage »Savannah River Site« verstoße gleich mehrfach gegen geltendes Recht.
Die Brennelemente stammen demzufolge aus dem Reaktor der Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor GmbH (AVR). Dieser sei, anders als offiziell deklariert, kein Forschungs-, sondern ein Leistungsreaktor zur Stromgewinnung gewesen. »Die AVR hat über 20 Jahre lang Strom erzeugt und ins Netz eingespeist«, sagte der Rechtsanwalt Ulrich Wollenteit. Er verwies darauf, dass in Deutschland der Transport und die Aufbereitung heimischen Atommülls in ausländischen Wiederaufbereitungsanlagen seit Juli 2005 verboten ist. Bis Ende September müssen die Energiewerke Nord als Betreiber des Forschungszentrums ein Entsorgungskonzept vorlegen. epd/nd
Den Energieunternehmen erteilt die Studie vor allem in Punkto Transparenz eine Rüge. Die Höhe der Rücklagen fällt demnach je nach Unternehmen sehr unterschiedlich aus, zudem schwanken die Werte von Jahr zu Jahr mitunter erheblich. »Es ist von außen nicht ersichtlich, mit welchen zukünftigen Kosten die Unternehmen rechnen, auf Basis welcher Kriterien sie kalkulieren und welche Summen für welche Aufgaben vorgesehen sind«, kritisiert Swantje Küchler, energiepolitische Leiterin der FÖS. Ohnehin sei das Wort »Rückstellungen« in diesem Zusammenhang sehr optimistisch gewählt. Denn die in den Bilanzen ausgewiesene Summe ist zunächst nur eine Zahl. Das dahinterstehende Kapital arbeitet am Finanz- und Kapitalmarkt, wo genau, ist nicht ersichtlich. Rund 79 Milliarden Euro Zusatzprofite konnten die Stromkonzerne laut der Studie durch die angelegten Rücklagen erwirtschaften. Diese Gelder seien allerdings in den Bilanzen und Gewinnen der AKW-Betreiber verschwunden.
Doch die Intransparenz ist nicht das einzige Problem. »Es ist zu bezweifeln, dass die von den Unternehmen ausgewiesenen 36 Milliarden Euro reichen werden«, erklärt Becker. »Unseren Schätzungen zufolge liegen die Kosten der 23 zurückzubauenden Kernkraftwerke eher bei 48 Milliarden Euro.« Dieser Wert dürfte selbst bei moderaten Kostensteigerungen und guten Renditen auf die angelegten Rücklagen für die Unternehmen kaum zu erreichen sein.
Jenseits der Frage, auf welchen Betrag sich die Kosten letztendlich belaufen, ist Küchler zufolge Skepsis angebracht, ob die ausgewiesenen 36 Milliarden dann überhaupt zur Verfügung stünden. »Wir sehen hier verschiedene Risiken für die öffentliche Hand.« Es sei zu befürchten, dass Mutterkonzerne sich bis zum Zeitpunkt der Zahlungsfälligkeit umorganisierten, um ihrer Zahlungsverpflichtung zu entgehen. Auch Insolvenzen könne man nicht ausschließen. Statt eigenständiger Rückstellungen durch die Unternehmen fordert der BUND daher insbesondere für langfristige Verpflichtungen die Einrichtung eines öffentlich-rechtlichen Fonds. Dieser müsse klare Transparenzverpflichtungen verfolgen, eine unabhängige Überprüfung der Kostenschätzung anstellen und strengen Anlagevorgaben unterliegen. Besonders wichtig seien zudem langfristige vertragliche Regelungen, die die Haftung der Mutterkonzerne bis zum Abschluss aller Entsorgungsarbeiten garantierten, damit diese sich nicht vorzeitig aus der Verantwortung stehlen könnten.
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