Insel des Todes
Die Leprakranken haben Spinalonga bei Kreta längst verlassen
Als Annika Zeferis und Alan Haldane zum ersten Mal ihr neues Boot ausprobieren, wählen sie den Weg rund um die Insel Spinalonga. Die gute Stimmung verfliegt, als Annika zwei Falken entdeckt, die über dem venezianischen Kastell ihre Kreise drehen. »Spinalonga beunruhigt Dich?« fragt Haldane, »das ist doch nur eine alte Leprakolonie.« Annika schüttelt den Kopf: »Es ist ein Platz des Todes.« Und wieder schauderte ihr.
Der Dialog ist eine Schlüsselszene einer Fernsehserie, die vor Jahrzehnten in Großbritannien zum Straßenfeger wurde. Wenn sie lief, lief nichts mehr zwischen Dover und Land’s End. Die Manager der Griechischen Zentrale für Fremdenverkehr in London und Athen rieben sich die Hände. Denn die Fernsehserie »Who Pays the Ferryman?« (Wer bezahlt den Fährmann?) spielte auf Kreta und spülte eine Unmenge britischer Touristen auf die Insel, die mit eigenen Augen sehen wollten, wo Annika, die Griechin, und Haldane, der Brite, um ihr Glück kämpften. Der Titel des Films spielt auf den Fährmann Charon an, der in der griechischen Mythologie in der Unterwelt die Toten über den Fluss Acheron bringt und dafür Geld fordert. Im Archäologischen Museum von Agios Nikolaos, nicht weit von Spinalonga entfernt, ist ein antiker Schädel ausgestellt, der zwischen den Zähnen eine Silbermünze trägt - Lohn für den Fährmann.
Eigentlich gibt es Spinalonga in der weiten Bucht des Ferienortes Elounda an Kretas Nordostküste gleich zweimal. Zum einen das kleine Eiland, das heute als Ausflugsziel unter diesem Namen bekannt ist und von den Griechen auch Kalidona genannt wird. Zum anderen die benachbarte große Halbinsel gleichen Namens. Die Venezianer waren es, die letztere »Spina longa« nannten, »langer Dorn«. Wesentlich früher als die Herrschaft der Venezianer über Kreta lag die Blütezeit der Halbinsel, die mit dem Festland durch einen Damm verbunden ist. Hier lag in klassisch-griechischer Zeit die Stadt Oulos, die heute im Wasser versunken ist. Aber ihre Reste sind vom Land aus gut zu erkennen.
Das Eiland Spinalonga dürfte wohl durch einen Vulkanausbruch von der Halbinsel getrennt worden sein. Seine strategische Bedeutung wurde von den Venezianern erst 375 Jahre, nachdem sie Kreta erobert bzw. buchstäblich erkauft hatten, erkannt. Erst 1579 besiedelten sie die Insel und errichteten dort eine Festung - bestes venezianisches Festungshandwerk wie an so vielen Stellen auf Kreta, das über vier Jahrhunderte ohne nennenswerte Schäden überstand. Die Venezianer ließen sich auch etwas einfallen, um den schwächsten Punkt der Insel zu umgehen: Auf Spinalonga gab und gibt es keine Brunnen. So versahen sie die Hausdächer mit Wasserscheiden und sammelten das Regenwasser in großen Zisternen. Sie sind heute noch zu sehen.
Niemand weiß, ob es die Furcht vor dem mit 35 Kanonen ausgestatteten Bollwerk war oder pure Nachlässigkeit: Die Insel wurde von den Türken erst besetzt, als es für sie auf Kreta seit Jahrzehnten nichts mehr zu erobern gab: 1715. Zum Vergleich: Heraklion fiel nach 20-jähriger Belagerung bereits 1669. Über 1000 türkische Familie machten es sich in den Häusern der Venezianer bequem. Mit der Idylle war es vorbei, als Kreta 1889 einen autonomen Status erhielt. 1903 beschloss die Inselregierung, Spinalonga zur Leprakolonie zu machen. Kranke aus ganz Griechenland wurden hierher gebracht, die bis dahin als Ausgestoßene völlig isoliert in Erdlöchern, Höhlen oder primitiven Hütten gelebt hatten. Es gab für sie keine Arbeit und keine medizinische Versorgung.
Auf Spinalonga dagegen fanden sie die Geborgenheit in einer Gruppe. Zwar mussten sie auch hier jahrzehntelang ohne Arzt auskommen, und Wasser und Essen wurde nur unregelmäßig vom Festland herübergebracht. Aber dieses karge Leben musste ihnen lebenswerter vorkommen als das als Aussätzige fernab der dörflichen Gemeinschaft. Eine solche schufen sie sich auf der nur 440 Meter langen und 250 Meter breiten Insel. Paläste aus venezianischer Zeit wurden als Krankenhäuser genutzt, die kleineren Bauten zu Wohnhäusern und Geschäften ausgebaut. Schließlich gab es auf Spinalonga Tavernen, eine Kirche, eine Theatergruppe und eine eigene Zeitung. Der schriftstellernde Soldat Erhart Kästner (»Kreta«) besuchte die Insel im Zweiten Weltkrieg und stellte fest: »Die Kranken haben sich im Alten zurechtgenistet. Es hat sich so etwas wie ein Dorf in der alten Festung entwickelt, eine Gemeinde, die für sich dahinlebt.«
Das Leben in der Leprakolonie war seit den dreißiger Jahren leichter geworden. Die Regierung ließ elektrisches Licht installieren, baute Labors und ein Krankenhaus. Jetzt kamen regelmäßig Ärzte auf die Insel, um die Kranken zu betreuen. 1948 wurden die zweistöckigen Wohnblöcke errichtet, die Besucher heute noch sehen. Sie wirken wie Fremdkörper zwischen venezianischen und türkischen Bauresten.
Die letzten Leprakranken verließen die Insel 1957 und wurden in ein Athener Krankenhaus gebracht. Seitdem ist Spinalonga unbewohnt. Die Gebäude verfallen, aber einige sind bemerkenswert gut erhalten. An einigen Stellen wirken die schmalen Gassen der Insel so, als wären die Bewohner erst kürzlich fortgezogen. Bei gutem Wetter erwacht die Insel zu neuem Leben. Hunderte von Ausflüglern, die von Agios Nikolaos mit großen Ausflugsbooten anreisen, durchstreifen die Gassen, blicken in alte Handwerksläden und bewundern die von wild wachsenden Pflanzen überwucherten Festungsbauten.
In den letzten Jahren sind auch viele Griechen unter den Ausflüglern. Denn war es ein paar Jahre ruhig geworden um die Leprainsel, entfachte der Roman »The Island« von Victoria Hislop, der auf Spinalonga spielte, einen neuen Ansturm. Das Buch wurde in 20 Sprachen übersetzt und ist auch auf Deutsch mit dem Titel »Insel der Vergessenen« erschienen. Seitdem das griechische Fernsehen die Geschichte der Britin Alexis Fielding , die die Wurzeln ihrer griechischen Mutter sucht, in 26 Folgen verfilmte, interessiert sich auch fast jeder Grieche für Spinalonga.
Wer allerdings die verwunschene Insel auf eigene Faust entdecken möchte, sollte die großen Ausflugsschiffe meiden. Er findet im kleinen Ort Plaka, der Spinalonga genau gegenüber liegt und fast nur einen Steinwurf weit entfernt ist, ein Motorboot und einen ehemaligen Fischer, der ihn hinüberbringt. In früheren Jahren musste man suchen und fast betteln, um einen Bootsführer zu finden, was natürlich die Preise in die Höhe trieb. Heute haben die Männer von Plaka aus der Krise ihre Lehre gezogen: Sie haben eine Genossenschaft gegründet und verkaufen Tickets zu Einheitspreisen, wobei sich die Verkäufer nach einem festen Plan abwechseln. Nur alleine und nicht in lärmenden Gruppen lässt sich die Atmosphäre der Insel erfassen. Für den, der so durch das Geisterdorf schlendert, wird der Tod begreifbarer als auf irgendeinem Friedhof. Bei der Rückfahrt lassen vielleicht auch ihn die Falken, die über der Festung kreisen, schaudern. Und er ist froh, dass der Fährmann nicht Charon heißt, sondern Nikos, Jannis oder Kostas.
Infos
www.gzf-eot.de
Alle großen und viele kleine Reiseveranstalter haben Kreta im Programm. Die Saison reicht von Ostern bis Ende Oktober.
Literatur: RichtigReisen »Kreta«, Dumont Reiseverlag, 22,95 €
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.