Werbung

Austreter

Leo Fischer war Chefredakteur des Nachrichtenmagazins »Titanic«. An dieser Stelle kümmert er sich vierzehntäglich um den liegen gelassenen Politikmüll und dessen sachgemäße Entsorgung

Nun ist auch Christopher Lauer gegangen - Berliner Vorsitzender jener Piratenpartei, die überhaupt nur mehr durch Austritte von sich reden macht. Genau gesagt war Lauer das letzte Mitglied der Piraten, das man dem Namen nach noch kennen konnte; alle anderen mit bundesweiter Reichweite haben den Kahn schon verlassen. Was hingegen in der FDP derzeit passiert, dringt nicht nach außen, aber nach den ungeheuren Niederlagen der letzten Zeit dürften Parteiaustritte noch die harmlosesten Selbstabschaffungspläne der Führungskader sein. In der Liveberichterstattung des MDR hatte man während der Landtagswahlen von Vorsitzenden gehört, die sich in der Kaffeeküche eingesperrt hatten, von »Wahlpartys« genannten Begräbnissen, die im Fraktionsbüro stattfanden statt in schicken Bars.

Auf der anderen Seite haben sich bedeutende AfD-Politiker nach den Wahlerfolgen des letzten Wochenendes aus der Partei zurückgezogen - mit der Begründung, sie würden jetzt erst erkennen, was für ein ekliger rechter Haufen das eigentlich ist. Ein in der Geschichte der deutschen Politik wohl einmaliger Vorgang: eine Partei, schickschwarz mit braunem Innenfutter, deren oberste Vertreter Angst vor dem Erfolg der eigenen Bewegung haben! Es ist ein wenig so, als hätte Hermann Göring 1928 aus Gewissensgründen sein eben erst errungenes Mandat niedergelegt.

Die Austreterei ist ein relativ neues Phänomen. Sie muss ungefähr mit dem ehemaligen SPD-Arbeitsminister Wolfgang Clement begonnen haben, der erst aus der SPD heraus Hartz IV und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit beging, um der Partei, nachdem er sie ruiniert hatte, auch noch den Laufpass zu geben. Als gäbe es für eine SPD, die bereitwillig einem Sarrazin Obdach gewährt, noch irgendeine inhaltliche Kontrolle, irgendeine politische Souveränität! Clements Rückzug war allein seiner Eitelkeit geschuldet, und Eitelkeit muss man den meisten Austretern unterstellen - sie sehen sich selbst nämlich nicht als Substanz ihrer Partei, sondern als Akzidens. Was hinderte denn AfD-Hörige daran, das liberale Profil ihrer Partei zu schärfen, wenn die SPD schon die rassistischen Ausfälle eines Sarrazin duldet? Dazu muss man die Grundsätze einer Partei schon für in Blei gegossen halten. Tatsächlich aber ist die Austreterei ein Zeugnis dafür, dass auch in der Politik der Patchworkgedanke angekommen ist: Die Parteimitgliedschaft wird Zeugnis eines unverbindlichen Lifestyles, nicht eines Bekenntnisses. Eine Partei, die etwas auf sich hielte, behandelte Austreter am besten wie Heiratsschwindler - und fasste Überläufer nur mit spitzen Fingern an.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -