Anwohner leben jetzt im Wohnmobil
Nach der Explosion in Ritterhude genießt die Industrie anderswo weiter Bestandsschutz
Wo die Wümme, Grenzflüsschen zwischen Niedersachsen und Bremen, mit der Hamme zusammenfließt, ist Ritterhude zu Ende. Ziemlich genau hinter dem Areal von »Organo Fluid« nämlich, dem Unternehmen, das am 9. September bei einer Explosion zerstört wurde und das seit dem 17. September nicht mal mehr bei Wikipedia zu finden ist. Um 6.56 Uhr wurde der Eintrag gelöscht, einen Tag, nachdem ein 60jähriger Mitarbeiter im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Die Explosion bereitete auch dem Entsorger und Aufbereiter brennbarer und giftiger Flüssigkeiten ein jähes Ende - mitten zwischen Reihenhäusern, neben einem über 100 Jahre alten Reetdachhaus und 150 Meter vom Zusammenfluss der schmalen Grenzrinnsale entfernt. Eine regionale Katastrophe mit Ansage.
Ein Toter, drei Verletzte, über 40 zerstörte oder beschädigte Häuser, Millionenschaden. Mischbebauung heißt das in Baurechtssprache, was sich hier an Gebäuden versammelte. Vor 100 Jahren standen am Rande der heutigen 14 000-Einwohner-Gemeinde einige Wohnhäuser und die Chemiefirma Bergolin, die erst vor vier Jahren Ritterhude den Rücken kehrte. Seit 1983 wuchs und gedieh dann Organo Fluid - und breitete sich aus. Nachbar Uwe Vanester war schon vor Jahren beunruhigt, warnte im Familien- und Freundeskreis: »Passt auf, irgendwann fliegt uns das alles um die Ohren.«
»Halten Sie Türen und Fenster geschlossen. Wir sagen Ihnen, wann die Gefahr vorüber ist.« Solche Rundfunkdurchsagen und heulende Sirenen weisen untrüglich auf einen Notfall hin, der auf die gefährliche Nachbarschaft von Industrie und Wohngebieten zurückzuführen ist. Meistens geht es glimpflich aus - oder es bleibt »nur« bei Leichtverletzten, bei Sachschaden. Was auf jeden Fall auch bleibt, ist die Angst. Angst vorm GAU, Angst vor dem, was auch durch noch so große Sicherheitsvorkehrungen nie ausgeschlossen werden kann. Neu ist das nicht - weit über 1200 Tote, über 10 000 Schwerverletzte in rund 100 Jahren: Industrieunglücke in Wohngebieten haben schon immer für Entsetzen gesorgt, noch nie aber für eine Änderung der Verhältnisse.
Am 31. Mai 1917 explodiert im nordrhein-westfälischen Detmold mitten im Wohngebiet eine Munitionsfabrik, 72 Menschen sterben. Obwohl als Unglücksursache ungenehmigte Produktionen und Missachtung von Sicherheitsvorschriften ausgemacht werden, geht die Produktion von Kriegsmunition am selben Standort wenig später weiter.
BASF-Zweigwerk in Oppau bei Ludwigshafen: Am 21. September 1921 fliegen rund 4500 Tonnen des Schwefel-Stickstoff-Düngers Ammonsulfatsalpeter in die Luft. 561 Tote am Unglücksort, über 2000 Menschen erleiden schwere Verbrennungen, 80 Prozent der Wohnhäuser sind komplett, der Rest teilweise zerstört. Im benachbarten Frankenthal sterben weitere 30 Menschen, 128 werden verletzt. Selbst in Heidelberg, 25 Kilometer entfernt, deckt die Druckwelle ganze Hausdächer ab.
Am 28. Juli 1948 knallt es am BASF-Stammsitz in Ludwigshafen. Ein Kesselwagen mit 30 Tonnen Dimethylether explodiert, 200 Menschen sterben, fast 4000 werden verletzt, 3000 Gebäude beschädigt.
In der Bremer Rolandmühle kommt es am 6. Februar 1979 zu einer Mehlstaubexplosion. 17 Tote, 100 Millionen Mark Schaden. Der Mehlstaub bedeckt eine Fläche von 30 Hektar.
Im niederländischen Enschede, direkt hinter der deutschen Grenze, explodiert am 13. Mai 2000 eine Feuerwerksfabrik. 23 Menschen sterben, 1000 werden verletzt, 40 Hektar sind nur noch Schutt und Asche.
Am 21. September 2001, genau 80 Jahre nach der Katastrophe von Oppau, explodieren im französischen Toulouse bis zu 300 Tonnen Ammoniumnitrat. 31 Tote, mehrere tausend Verletzte, rund 10 000 Wohnungen, Schulen, Geschäfte und ein Krankenhaus werden zerstört. Der Schaden beträgt weit über 1,5 Milliarden Euro.
Kolding, eine dänische Stadt, knapp 90 Kilometer von Flensburg entfernt: Am 3. November 2004 zerstören mehrere Explosionen rund 20 Wohnhäuser. In einer Feuerwerksfabrik waren 2000 Tonnen explosiven Materials in die Luft geflogen - gelagert werden durften dort, direkt neben einem Wohngebiet, »nur« 900 Tonnen. nd
Zwei Wochen, nachdem sich seine Prophezeiung erfüllt hat, wohnt er mit seiner Familie im Wohnmobil. Es steht vor den Resten seines 1986 gekauften Reihenhauses, dem, was die Explosion des Chemieentsorgers davon übrig gelassen hat. Weihnachten, hofft er, kann er wieder in feste vier Wände einziehen. Bis dahin sieht er hilflos zu, wie rundum immer noch Trümmer geräumt und Bodenproben genommen werden. Allein an diesem Montag rollten 15 Container mit giftigen Gasen und Chemikalien vom Firmengelände. Die Ursachensuche wird noch viele weitere Wochen andauern. Die acht Familien, die ihr Zuhause verloren, leben behelfsmäßig in Ersatzwohnungen, wissen noch nicht, wann oder ob sie überhaupt ins eigene Heim an der Kiepelbergstraße zurückkehren können.
Seit Jahren wurde gewarnt vor der Gefahr. Bürgermeisterin Susanne Geils im nd-Gespräch: »Wir haben immer gesagt, diese Firma ist hier fehl am Platz.« Aber wegbekommen hat man sie nicht. »Bestandsschutz« heißt die Umsiedlungsbremse, und Firmeninhaber Dr. Wolfgang Koczott habe zwar wegziehen wollen, »aber nur, wenn er dafür Fördergelder bekommt«, sagt Geils. Geld haben jedoch weder die schuldenreiche Gemeinde noch der ebenfalls verschuldete Kreis Osterholz. Also blieb der chemisch-technische Betrieb an der Kiepelbergstraße 10, wo jetzt zwei Schornsteine und verbogene Stahlträger wie Mahnmale aus Schutt und Asche ragen und dürre Schatten auf die Nachbarhäuser werfen.
Fest steht nur, sagt Bürgermeisterin Geil, dass sich das Problem jetzt auf tragische Weise von selbst gelöst habe: »Eine Genehmigung für den Wiederaufbau wird’s nicht geben.« Die gegenseitige Blockade der beiden Rechtsansprüche »Sicherheit im Wohngebiet« und »Bestandsschutz« hat sich über Nacht im wahrsten Wortsinn in Luft aufgelöst.
Die enge Nachbarschaft von Industrie und Wohngebieten ist ein bundesweites Problem. In Bremen gab es lange Auseinandersetzungen um die Stahlwerke Arcelor-Mittal, knapp 1000 Meter von Wohnhäusern, Schulen und Sportstätten entfernt. Abgaswolken, Lärm - die Anwohner gingen auf die Barrikaden. Bis Arcelor-Mittal in die Tasche griff und die Emissionen drastisch runterfuhr.
In Hemelingen an Bremens Südgrenze will die Firma Pro Entsorga ein Mülllager errichten, 200 Meter von der Wohnbebauung entfernt. Auch hier stellen sich die Anwohner quer, Ausgang offen. In einer anderen Ecke des Mini-Bundeslandes hatte sich der Cornflakes- und Müsli-Riese Kellogg von Wohnnachbarn schriftlich geben lassen, dass er die Wohnqualität beeinträchtigen darf - mit einer Klausel, die in Grundbuch oder Mietvertrag zu unterschreiben war.
Neuansiedlungen von gefahrbringenden Unternehmen in Wohngebieten sind mittlerweile nicht mehr möglich. Der Abstandserlass des Ministeriums für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zieht hier seit 2006 klare Grenzen. Das Problem des Bestandsschutzes alter Betriebe bleibt - nach wie vor dürfen hier Sattelschlepper durch Anwohnerstraßen fahren, Dauerlärm und schmutzige Luft sorgen für dauerhaft geschlossene Fenster als einzig mögliche Gegenmaßnahme. Menschenschutz kontra Finanzinteressen - beides rechtlich gedeckt, beide Rechtsansprüche blockieren sich.
Und es sind nicht nur Betriebe mit laufender Produktion, die in lebensgefährlicher Nachbarschaft von Wohngebieten stehen. Bei Nürnberg gibt es neben einer Wohnsiedlung mit rund 6000 Einwohnern eine ehemalige Sondermüllverbrennungsanlage. Zwischen 1968 und der Stilllegung im Jahr 2005 wurden hier 1,7 Millionen Tonnen Giftmüll eingelagert - die Deponie ist mittlerweile undicht, der Boden verseucht. Grund für die Stilllegung waren nicht die vielen Stör- und Unfälle mit Verletzten und Toten, sondern rein kapitalistische Überlegungen - Unwirtschaftlichkeit.
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