Ende der Hausgeburt?
Hebammen fürchten nach Verurteilung einer Kollegin um ihre Zukunft
Die Geburt dauerte 17 Stunden und die kleine Greta erstickte, bevor sie zur Welt kam. Am Mittwoch wurde eine Ärztin und Hebamme aus Unna deshalb vor dem Dortmunder Landgericht wegen Totschlags zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Zudem bekam sie ein lebenslanges Berufsverbot. Der Vorwurf gegen Anna R. lautete auf Totschlag durch Unterlassung, weil ein Säugling unter ihrer Betreuung unter ungeklärten Umständen Ende Juni 2008 tot zur Welt kam.
In den seltenen anderen Fällen, in denen so etwas bisher passierte, waren die betroffenen Ärzte oder Hebammen wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden. In diesem Spezialfall lag das Kind in Steißlage, Anna R. wollte es außerhalb einer Klinik entbinden. Die dafür notwendigen Kenntnisse werden in der Berufsausbildung von Medizinern und Hebammen nicht mehr vermittelt, ein Kaiserschnitt ist Standard. Als eine der wenigen verbliebenen Fachfrauen für Steißlagen wurde Anna R. in solchen Fällen zu Rate gezogen. Die Eltern des Kindes waren für eine erfahrene Betreuung extra aus Riga nach Deutschland gereist.
Anna R. ist dreifache Mutter und arbeitete seit 1978 als Hebamme sowie seit 1985 als Ärztin. Seitdem begleitete sie rund 2000 Geburten. 2012 wurde ihr aufgrund der Ermittlungen die Approbation entzogen, als Folge ihre Privatpraxis geschlossen. Ihre berufliche Existenz war somit nach 34 Jahren beendet. Es war in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Verfahren, nicht nur, weil hier dezidiert eine Tötungsabsicht unterstellt wurde. Die Ermittlungen begannen bereits am Tag der Entbindung. Am Folgetag hatte die Staatsanwaltschaft den ersten Durchsuchungsbeschluss beantragt und in der Folgezeit dann auch durchgesetzt. Die Anklage war aber erst im Januar 2011 fertig.
Das Verfahren zog sich lange hin. Denn das Gericht musste rund ein Jahr lang selbst ermitteln und aufklären. Diese Aufklärungsarbeit wäre nach Ansicht des Pflichtverteidigers von Anna R. jedoch Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen.
Eine dramatische Wende nahm der ohnehin schon ungewöhnliche Prozess im September 2013, als die Angeklagte wegen Verdunkelungsgefahr im Gerichtsaal in Haft genommen und für knapp fünf Wochen eingesperrt wurde. In seinem Plädoyer vom Juni 2014 kritisierte ihr Anwalt Hans Böhme zudem die Behandlung der Entlastungszeugen und der Gutachter als »tendenziös«. Das Verhalten der Staatsanwaltschaft sei über weite Strecken »ohne Worte« gewesen. Befangenheitsanträge gegen das Gericht und gegen zwei Gutachter wurden jedoch abgelehnt.
Die Richter blieben mit ihrem Urteil von sechs Jahren und neun Monaten unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die acht Jahre und drei Monate Haft gefordert hatte. Das Berufsverbot wurde jedoch verhängt. Die Verteidigung wird Revision einlegen. Mit dem schriftlichen Urteil wird im Januar kommenden Jahres gerechnet.
Nina Martin, Pressesprecherin des Deutschen Hebammenverbandes (DHV), sieht unterdessen »keine Auswirkungen auf den Berufsstand. Wir sehen es als Einzelfall. Es gibt ja ausführliche Daten, die besagen, dass die außerklinische Geburtshilfe als solche sicher ist.«
Die Hebamme Claudia Kummert, die das Verfahren verfolgte, widerspricht: »Ich kenne alleine drei Hebammen, die nur wegen des eingeleiteten Verfahrens aus der Hausgeburtshilfe ausgestiegen sind. Die Zahl dieser Kolleginnen wird sicher deutlich zunehmen. Sollte das Urteil so durchgehen, sind aber auch alle Kliniken betroffen, die noch spontane Steißlagen durchführen, die dann grundsätzlich als OP-Fälle eingestuft werden, um ähnliche Klagen zu vermeiden.« Empört ist Birte Laudien, Mitbegründerin des Geburtshauses Göttingen: »Ich kenne die Angeklagte gut und habe die Grundlagen meiner außerklinischen Ausbildung bei ihr gelernt. Jetzt stelle ich meine Arbeit als Hebamme generell in Frage. Ich mache dasselbe und bin theoretisch mitverurteilt.«
Die Hebamme Ina May Gaskin, der 2011 wegen ihrer Arbeit in der außerklinischen Geburtshilfe der alternative Nobelpreis verliehen wurde, schrieb in ihrem letzten Buch: »Wenn die Hebammengeburtshilfe zerstört wird, so wie es in Deutschland der kommenden zehn Jahre geschehen könnte, dann verlieren wir unweigerlich das Wissen über natürliche Geburtsprozesse.« In den US-Bundesstaaten Florida, Kalifornien und New York wurde bereits 2010 eine gestiegene Müttersterblichkeit teilweise auch serschnittrate in Verbindung gebracht. Diese lag wie in Deutschland 2011 bei 32 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation schrieb allerdings bereits 1985, es gebe keine Rechtfertigung für eine Kaiserschnittrate »über 10 bis 15 Prozent«.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.