Renaissance marxistischen Denkens

Hat Thomas Piketty mehr zu bieten als viele tolle Statistiken? Der gerade angesagte US-Marxist Benjamin Kunkel verneint dies

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Beginn der Krise 2007 macht eine neue US-amerikanische Linke von sich reden - diese reicht von einem Prominenten wie David Graeber bis hin zu einer sozialen Bewegung wie Occupy. Der neueste Zugang dieser medial gut aufgestellten Linken ist der hippe Erfolgsromancier und Harvard-Absolvent Benjamin Kunkel, der sich voller Begeisterung mit dem Erbe von Karl Marx auseinandersetzt.

»Zur Enttäuschung jener Freunde, die lieber meinen nächsten Roman gelesen hätten - und meiner Agentin, die ihn lieber verkauft hätte -, bin ich offenbar ein marxistischer Intellektueller geworden.« Mit diesem Satz beginnt Benjamin Kunkels flott und pointiert geschriebener Essayband, der in sieben längeren Texten einen marxistischen Blick auf linke Krisentheorien wirft. Der 1972 geborene US-Autor hatte vor einigen Jahren mit »Unentschlossen« einen viel beachteten Debütroman vorgelegt, in dem ein jugendlicher Anti-Held die Titel gebende Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, mit einer Wandlung zum Sozialisten meistert. Nun hat die Realität die Fiktion offenbar eingeholt, denn in »Utopie oder Untergang« bietet Kunkel einen Überblick zeitgenössischer linker und marxistischer Theorien zur aktuellen Wirtschaftskrise und fragt nach, inwieweit die Marx’sche Theorie von heutigen Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt wird.

Neben einer Kritik an Thomas Pikettys Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhundert« geht Kunkel auf David Harvey ein, den aktuell vielleicht interessantesten marxistischen Theoretiker, in dessen Werk Krisen eine zentrale Rolle spielen. Um das Thema »Beschäftigung und Arbeit« geht es in einem Text über Robert Brenner, der einer »Profitklemme durch Vollbeschäftigung« kritisch gegenübersteht. Anhand von Frederic Jameson widmet sich Kunkel dem Begriff des »Spätkapitalismus« und nach einem kurzen Abwatschen des Philosophen Slavoj Zizek (dem Kunkel attestiert, dass »sein Konzept des Kapitalismus unzureichend präzisiert und seine Vorstellung vom Kommunismus weitgehend nebulös ist«), wird David Graebers Arbeit gewürdigt. Dabei soll sein Essayband, so Kunkel, »einen Beitrag dazu leisten, den einzig auf soziale Polarisierung, Aushöhlung der Demokratie und ökologische Zerstörung abzielenden Kapitalismus durch eine neue, bessere Ordnung abzulösen«.

Die journalistische und vor allem feuilletonistische Bezugnahme auf das Werk von Karl Marx, für den Krisen konstituierende Elemente des Kapitalismus sind, nahm mit Beginn der Wirtschaftskrise 2007 deutlich zu, wobei laut Kunkel »der wiederbelebte Keynesianismus im Großen und Ganzen die linke Grenze der ökonomischen Debatte« beherrscht. Dessen prominentester Vertreter ist derzeit Thomas Piketty. Vor dem riesigen statistischen Zahlenmaterial, das der französische Ökonom zusammengetragen hat, zieht Kunkel seinen Hut, er bemerkt aber auch, »Pikettys theoretische oder interpretative Einsichten reichen indes nicht an dieses beeindruckende statistische Niveau heran«. Denn Pikettys Gesetz, nach dem eine Kapitalrendite, die größer als das Wachstum ist, als fundamentaler Widerspruch des Kapitalismus zu werten sei, falle hinter die Kritik von Marx zurück, wonach es die Akkumulation des Kapitals an sich ist, die zwangsläufig ihre eigenen Grundlagen untergräbt.

Deshalb schneidet der amerikanisch-britische Ökonom David Harvey, der sich dem Problem kapitalistischer Krisen durch Überakkumulation widmet, bei Kunkel weit besser ab. Wobei Harvey ähnlich wie Rosa Luxemburg betont, dass der Kapitalismus sich in Zeiten von Krisen stets neue Felder der Verwertung erschließen kann. Diese Fortsetzung dessen, was Marx als »ursprüngliche Akkumulation« bezeichnete, nennt Harvey »Akkumulation durch Enteignung«, also von der Privatisierung von Staats- oder Gemeinbesitz über die Patentierung von Saatgut bis hin zur Einschränkung subsistenzwirtschaftlicher Tätigkeit etwa durch IWF-Strukturanpassungsprogramme. Dabei sind bei diesen Vorgängen der »Markterweiterungen« auch stets »schmutzige Triebkräfte« am Werk, so Kunkel, auf die auch David Graeber in seinen Arbeiten ein besonderes Augenmerk legt und damit ein nicht zu unterschätzendes Korrektiv zur gängigen wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise beiträgt.

Für den deutschen Leser interessant dürfte der Text über den Kulturwissenschaftler Frederic Jameson sein, der viel an US Universitäten gelesen wird, dessen Bücher aber kaum ins Deutsche übersetzt wurden. Er beschäftigt sich mit dem Begriff der Postmoderne, und die gelte es, als die »Einbeziehung der ganzen Welt in eine einzige große Erzählung zu verstehen: die Entstehung des globalen Kapitalismus«. Dabei werde die Wirtschaft ein Teil der Kultur und umgekehrt. Dieses Verschwimmen von Grenzen habe seit Beginn der 80er Jahre einen globalen Kapitalismus entstehen lassen, der kaum noch hinterfragt werden könne. Dieser Spätkapitalismus sei aber keine Abenddämmerung, sondern »die Morgenröte eines kompromisslosen Kapitalismus«. Er stehe für einen Prozess, durch den »die letzten noch verbleibenden inneren und äußeren vorkapitalistischen Zonen nunmehr endgültig durchdrungen und eine nach der anderen kolonisiert werden«. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit, in der »die Konstruktionsfehler des globalen Kapitalismus so deutlich zutage getreten« sind, dass Hoffnung aufkommt, sich gegen dieses Zwangsregime zur Wehr setzten zu können. Denn, so Kunkel: »Ein entscheidender Faktor für eine echte Renaissance marxistischen Denkens und marxistischer Kultur dürfte die Tatsache sein, dass der Kapitalismus bei vielen, die heute unter dreißig sind, jeden Anspruch auf Loyalität verwirkt hat.«

Von Reformen hält Kunkel indes wenig. Und so kann er sich kaum vorstellen, dass sich die herrschende Klasse einer Vermögensteuer unterwirft, wie sie Thomas Piketty vorschlägt: »Offen gestanden, scheint eine sozialistische Revolution da wahrscheinlicher.«

Benjamin Kunkel: Utopie oder Untergang - Ein Wegweiser für die gegenwärtige Krise, Suhrkamp, 246 S., 18 €.

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