Jenseits des Kriegermythos

Wikinger-Ausstellung in Berlin

  • Roland Sprafke
  • Lesedauer: 4 Min.

Es war ein bizarrer Anblick, der sich 2007 Archäologen bei Weymouth im südenglischen Dorset bot. In einem Massengrab lagen die kopflosen Skelette von 54 Männern, die abgeschlagenen Schädel hatte man am Rande der Grube aufgestapelt. Zahnuntersuchungen brachten eine Überraschung: Die Männer waren Skandinavier. Augenscheinlich waren hier um das Jahr 1000 Wikinger von den Angelsachsen gefangen genommen und hingerichtet worden. Der Mythos von den erfolgreich raubenden Nordmännern mit ihren schnellen Schiffen bekam einen Riss.

Doch stimmt dieses Bild in seiner Einseitigkeit überhaupt? Ein Gemeinschaftsprojekt des Dänischen Nationalmuseums Kopenhagen, des British Museum London und des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin geht diesem jahrhundertealten, bis heute verbreiteten Vorurteil zur Lebensweise der Wikinger auf den Grund. Nach Kopenhagen und London sind nun im Martin-Gropius-Bau Berlin rund 800 Exponate, teilweise aus Ausgrabungen der letzten 20 Jahre, zu sehen.

Das Schiff war für die Wikinger Voraussetzung und Mittelpunkt ihres Lebens. Darum steht auch das größte bislang gefundene Schiff im Zentrum der Ausstellung. Unweit des Wikingerschiffsmuseum in Roskilde stieß man 1997 bei Baggerarbeiten auf neun Schiffe unterschiedlicher Größe. Die Roskilde 6, ein 37 Meter langes Kriegsschiff mit bis zu 100 Mann Besatzung, wird mit seinem rot-gelb gestreiften Segel erstmals in voller Größe im Lichthof des Museums gezeigt. Diese Schiffe waren Meisterwerke des Schiffbauhandwerks. Schnell und beweglich konnten sie wegen ihres geringen Tiefgangs sowohl Flüsse befahren, überraschend an Küsten anlanden, waren aber auch hochseetauglich. Sie kamen flussaufwärts bis nach Paris, Köln, Trier, Nottingham. Über England gelangten die Wikinger auf dem »norwegen« (dem Nordweg) nach Grönland und an die Küste Neufundlands, über Gibraltar bis nach Nordafrika und Ägypten. Auf den Flüssen Russlands erreichten sie das Schwarze Meer, Konstantinopel und sogar Bagdad und Samarkand - in friedlicher wie in kriegerischer Absicht.

Von diesen Fahrten berichten die archäologischen Funde im ersten Teil der Ausstellung. Vor Großfotos der bereisten oder eroberten Gegenden ist eine faszinierende Materialfülle ausgebreitet: Bernsteinketten aus Lettland, ein Axtkopf aus Walknochen von Grönland und ein Elfenbeinkamm aus Byzanz, eine Tafel mit einer kufischen Inschrift aus Ägypten und ein Stück Birkenrinde mit einer Runeninschrift aus Smolensk. Ein gutes Beispiel für den umfangreichen Warenaustausch ist der Vale-of-York-Hort. 2007 in der Nähe des englischen Harrogate gefunden beinhaltet der 927/928 vergrabene Hortfund über 600 Silbermünzen (u.a. arabische Dirham), einen karolingischen Silberbecher, goldene Armreifen aus Skandinavien und Irland, aber auch Gegenstände aus Usbekistan und Afghanistan!

Im folgenden Bereich folgt die raue Wirklichkeit: In dem abgedunkelten Raum ist das Massengrab von Weymouth inszeniert: Fünf Skelette liegen auf dem Boden, die anderen Toten sind farblich markiert. An den Seiten sind in Vitrinen Knochen und Schädel ausgestellt, die von Schwert- und Axthieben gekerbt das ganze Ausmaß des Massakers schaurig verdeutlichen. Im Nachbarsaal werden rund 200 Waffen gezeigt: Schwerter, Äxte, Lanzen, Langbögen, Helme (ohne Hörner und Flügel!). Obwohl fränkische Gesetze (Diedenhofener Kapitular Karls des Großen 805) den Verkauf der Waffen an Slawen und Wikinger verboten, finden sich karolingische Schwertgriffe von Irland bis Russland. Auch Klingenimporte waren sehr begehrt, wie Klingen mit der »Ulfberht«-Inschrift, einer fränkischen Werkstatt aus dem Rheinland, beweisen.

Wenn auch der Heldentod im Kampf quasi die Eintrittskarte nach Walhall war, stand bei den Kriegern doch der praktische Nutzen der Kämpfe im Vordergrund - Beute. Und diese ließ sich leichter und gefahrloser bei Überfällen auf reiche, aber abgelegene und wehrlose Klöster und Kirchen erreichen. Außerdem vergessen wir nicht, auch das christliche Europa war nicht weniger grausam zu seinen ungläubigen Gegnern. Man denke an die Sachsenkriege Karls oder die Kreuzritter des christlichen Abendlandes.

Der letzte Raum gibt Einblick in die Schatzkammer des Königs. Aus den königlichen Werkstätten kommen viele Geschenke für seine Gäste und die europäischen Kollegen. Diesen lebhaften Austausch bezeugen zahlreiche Werke der Kleinkunst in europäischen Kirchen und Klöstern. Der prächtige Schrein von Cammin, ein Reliquienschrein mit 22 Walrosselfenbein- und Elchgeweihplatten mit Tier- und Maskenschnitzereien (um 1000), gelangte in den Domschatz im polnischen Kamien. Abschließender Höhepunkt ist der Goldschmuck von Hiddensee aus dem späten 10.Jh. Zwischen 1872 und 1874 fand man am Strand von Hiddensee diese Kreuzanhänger, Zwischenstücke, eine Scheibenfibel und einen Halsreif. Die meisterhafte Beherrschung der Goldschmiedekunst kommt in der Filigran- und Granulationstechnik zum Ausdruck, bei der winzige Goldkügelchen und verzwirnte Golddrähte zu komplizierten Ornamenten angeordnet wurden. Die weite Verbreitung solcher Kleinodien zeigen sieben Kreuzanhänger gleicher Machart jedoch aus Silber aus dem Michailowski-Kloster in Kiew.

Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 4.1.2015; www.smb.museum

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