In Brasilien steht viel auf dem Spiel

Präsidentin Dilma Rousseff stellt sich am Sonntag zur Wahl. Ihr Sieg wäre ein wichtiges Signal für die Länder Lateinamerikas, meint Gerhard Dilger .

  • Gerhard Dilger
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Die Stichwahl um die Präsidentschaft in Brasilien wird so spannend wie seit 25 Jahren nicht mehr. Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei PT liefert sich ein erbittertes Kopf-an-Kopf-Rennen mit Aécio Neves von der rechtsliberalen Sozialdemokratischen Partei PSDB, der zudem von der Drittplatzierten im ersten Wahlgang, der Ökologin Marina Silva, unterstützt wird.

Warum könnte die PT-geführte Koalitionsregierung am Sonntag abgewählt werden? Immerhin hat die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO Brasilien bescheinigt, den »strukturellen Hunger« überwunden zu haben. Nur noch 1,7 Prozent der Bevölkerung seien von »Ernährungsunsicherheit« betroffen, weniger als in Europa. 2002, vor dem Beginn der PT-Ära unter Luiz Inácio Lula da Silva, hatte dieser Anteil noch neun Prozent betragen.

Gerhard Dilger

Gerhard Dilger leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.
 

Sozialprogramme wie der Haushaltszuschuss Bolsa-Família lindern das Elend - heute bekommen 13,9 Millionen Familien einen Zuschuss von durchschnittlich 56 Euro im Monat. Sozialer Wohnungsbau, Berufsschulen, das Programm »Wasser für alle«, das die Installierung von 670 000 Plastikzisternen im ganzen Land einschließt … Die Reihe der sozialen Wohltaten ist lang, und mit den deutlichen Erhöhungen des Mindestlohns hat sie das Leben von Millionen spürbar verbessert.

Auffällig ist, dass Rousseff in Umfragen unter den 16- bis 34-Jährigen besonders schlecht abschneidet - bei jenen also, die die PT fast nur noch als Teil des Establishments wahrgenommen haben, nicht aber als jene linke Kraft, die 23 Jahre nach ihrer Gründung schließlich 2003 mit dem Versprechen eines sozialen, aber auch eines ethischen Wandels angetreten war. Noch nie war die Zahl der Nicht- und Nullwähler so groß wie heute.

Präsidentschaftswahlkampf ist hart, oft unter der Gürtellinie. Die zahlreichen Fernsehdebatten werden ganz im Sinne der beiden Marketingteams organisiert, zuletzt gibt es nur noch einen direkten Schlagabtausch. Eine lange Liste von Themen, die für beide Kandidaten unbequem sein könnten, bleibt ausgespart: soziale Ungleichheit, Ökologie, Rassismus, Homophobie, Homo-Ehe, Schwangerschaftsabbruch, Stadtpolitik, Indigenenrechte, Sport- oder Kulturpolitik, politische Allianzen … Stattdessen gibt es jede Menge persönlicher Attacken, die durch die jeweiligen Stoßtrupps in den sozialen Netzwerken aufgebläht werden.

Allerdings ist im Cyberspace auch Platz für politische Debatten, die in den rechten Mainstreammedien kaum stattfinden. Dort überwiegt wie immer deutlich eine PT-kritische Linie. Im wohlhabenden Südosten und Süden, vor allem im Bundesstaat São Paulo mit einer zunehmend reaktionären, rassistischen Mittelschicht, liegt der rechte Kronprinz Neves klar in Front, der Hass auf die PT nimmt dort bisweilen pathologische Züge an. »Es ist der Hass jener alten Mittelschicht, die den sozialen Aufstieg der ehemals Rechtlosen einfach nicht erträgt«, erklärt Ex-Präsident Lula. Amazonien und der Nordosten, wo die Anzahl der Betroffenen von Sozialprogrammen besonders hoch ist, ist Dilma-Land.

Wenn Rousseff gewinnen sollte, wird sie sich ihre Mehrheiten im konservativsten Parlament seit 1964 suchen müssen. Landesweit bringt es die Arbeiterpartei nicht einmal mehr auf ein Sechstel der Stimmen - die PT-Fraktion im Repräsentantenhaus schrumpfte von 88 auf 70 von insgesamt 513 Abgeordneten. Eine immer größere Rolle spielen hingegen parteiübergreifende Interessengruppen wie jene des Agrobusiness, der Unternehmer, der »Sicherheit«, der Fußballvereinslobby, der Evangelikalen. Die üppige, unbegrenzte private Wahlkampffinanzierung sorgt dafür, dass es besonders viele kapitalfreundliche Parlamentarier gibt. Die Spielräume für eine fortschrittliche Politik sind dort geringer denn je.

Vor der Stichwahl gegen die Rechte gelang es der PT seit 2006 stets, durch Polarisierung viele ihrer enttäuschten Wähler inner- und außerhalb der sozialen Bewegungen zu mobilisieren. Solidaritätsbekundungen von Kleinbauernbewegungen, Frauen- und LGBT-Gruppen (Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle), von Kulturschaffenden, Afrobrasilianer, Gewerkschaften. Die reale Möglichkeit eines rechten Rollbacks setzt zusätzliche Energien frei. Auch diesmal könnte es wieder klappen: Jüngste Umfragen zeigen einen leichten Trend zugunsten von Rousseff. Ihr Sieg wäre ein wichtiges Signal für ganz Lateinamerika.

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