Die Nachfrage nach Geschichte
Der 9. November: Ballons, Festreden und die selektiven Erinnerungen an Deutschland
Nein, man konnte an diesem Wochenende einem Lied nicht entrinnen: »GO WEST«. Von nahezu allen Radiostationen wurde es gedudelt, egal ob in der weniger erfolgreichen Urversion der »Village People« oder in der, die die geschäftstüchtigen »Pet Shop Boys« 1993 auflegten. Man zelebrierte den Song, der auf der Melodie der sowjetischen - und jetzt russischen - Nationalhymne basiert und am Wochenende üblicherweise in Fußballstadien gegrölt wird, als eine Art »Einheitslied«. GO WEST! Dabei ist es einerlei, dass der Text eigentlich mal als Unterstützung für die Schwulenbewegung in den USA geschrieben wurde.
Geschichte ist nie so, wie sie erzählt wird. Doch eines stimmt: Man kam auf seine Kosten bei den Mauerfallfeiern 2014 - vor allem, wenn man einen Bierausschank auf einem der zahlreichen Volksfeste in Berlin und Brandenburg betrieb. Oder Besitzer eines Hauptstadthotels - illegale Ferienwohnungen eingeschlossen - ist. Oder eine Kaufhauskette managt. Der verkaufsoffene Test für kommende Adventstage ist dem Vernehmen nach gelungen. Klar: Mehr Kaufkraft war nie in Berlin. Schon gar nicht vor 25 Jahren, da waren die 100 D-Mark Begrüßungsgeld schnell ausgegeben.
Im Mittelpunkt standen jedoch zahlreiche Veranstaltungen, auf denen man vor allem der Ereignisse des 9. Novembers 1989 sowie der Opfer der Teilung Deutschlands - über deren Ursachen kaum ein Offizieller viel Worte machte - gedachte. Zentral war die Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße. Dort eröffnete Kanzlerin Angela Merkel eine neue Dauerausstellung zur Geschichte der Grenze, die die Stadt mehr als 28 Jahre lang teilte.
Merkel wehte Protest entgegen - in Form von Flugblättern. Darauf wurde gegen die tödlichen EU-Außengrenzen protestiert: Zu lesen war: »Wir fordern den europäischen Mauerfall - alle Grenzen abschaffen.«
Bereits am Samstag würdigte die CDU-Frau das Verschwinden der Berliner Grenze als »Symbol für die Vereinigung Europas.« »Der menschliche Drang nach Freiheit lässt sich nicht auf Dauer unterdrücken«, betonte sie bei der Eröffnung der »Falling Walls Conference«. Es brauche Mut, Freiheit zu erkämpfen, und es brauche Mut, Freiheit zu nutzen. Die Kanzlerin wies an anderer Stelle darauf hin, dass 2013 rund 70 Millionen Gäste aus dem Ausland nach Deutschland gekommen seien. »Das heißt, der Tourismus ist auch so etwas wie eine Visitenkarte Deutschlands und prägt den Ruf Deutschlands in der Welt.« Dass Berlin einmal die »Stadt des Friedens« sein sollte, so wie es noch an einer Plattenbauwand im Nicolaiviertel zu sehen ist, wird in den Reiseführern nicht als besondere Sehenswürdigkeit angepriesen. Das wäre wohl auch neben der Wahrheit.
Und zur Wahrheit des 9. Novembers 1989 hätte gehört, dass man die Verantwortung all jener Bewaffneten in der DDR würdigt, die sich in jenen Wendetagen nicht gegen das Volk gestellt haben. Gleiches gilt für die Sowjettruppen in Deutschland, die jegliche Einmischung vermieden.
Nach einem ökumenischen Gottesdienst in der Kapelle der Versöhnung, der von der ARD live übertragen wurde, folgten zahlreiche Konzerte und Lesungen. Man holte Zeitzeugen auf Bühnen. Ein Festakt des Landes Berlin fand im Konzerthaus am Gendarmenmarkt statt. Als Höhepunkt der Feierlichkeiten war ein Bürgerfest am Brandenburger Tor geplant. Auf dem Programm standen Künstler wie Peter Gabriel, der einstige Rocker Udo Lindenberg, Clueso oder die Fantastischen Vier. Begleitet von Beethovens »Ode an die Freude« stiegen nach 19 Uhr Tausende leuchtende Ballons auf. Deren Entschweben zeichnete die Auflösung der Grenze nach.
In diesen Tagen wurden viele Zeitgenossen gefragt, wo sie am Tag des Mauerfalls waren, woran sie sich erinnern. Sogar von Angela Merkel weiß man, dass sie den historischen Mauerfall im Wortsinn verschwitzte, weil sie mit einer Freundin in der Sauna gesessen hat.
Solche Fragen zu stellen, ist richtig. Man sollte gerade die Deutschen viel öfter befragen. Das Nachdenken über sich ist bisweilen extrem wichtig für die Fortentwicklung der Gesellschaft. An keinem anderen Datum ist so viel passiert wie am 9. November. 1918 dankte der Kaiser ab, Hitler putschte 1923.
Drängende Nachfragen hätte man sich spätestens nach dem Ende des Hitlerregimes gewünscht. Doch da wurde - wenn überhaupt - nur zaghaft geforscht, was Nachbarn getan oder gelassen haben an dem 9. November des Jahres 1938, als in Deutschland Synagogen brannten, Schaufensterscheiben zertrümmert und jüdische Friedhöfe verwüstet wurden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.