Widersprüche in der Machtpolitik
Gibt es in der Großen Koalition »zwei Linien« im Umgang mit Russland? Jörg Kronauer versucht Antworten zu finden.
Hat Horst Seehofer (CSU) recht? Macht der Außenminister eine eigene Außenpolitik, genauer: eine, die der Russlandpolitik der Bundeskanzlerin widerspricht? Erst hält Angela Merkel in Sydney eine Rede, die allgemein als ihr bislang schärfster Vorstoß gegen Moskau eingestuft wird; tags darauf warnt Frank-Walter Steinmeier (SPD) dann vor einer rhetorischen Eskalation. Ist das kein Widerspruch?
Die Bühne ist das eine, die konkrete Politik das andere. Dass diese Unterscheidung notwendig ist, konnte man in den vergangenen Monaten von Merkel lernen. 5. September: Die NATO beschließt auf ihrem Gipfel in Newport die Aufstellung einer potenziell gegen Russland gerichteten Kampftruppe (»Speerspitze«). Und Merkel lobt die »Geschlossenheit« des Kriegsbündnisses. »Bild« triumphiert: »Das ist ein neuer Kalter Krieg!« Am Rande des Gipfels knöpft sich die Kanzlerin den ukrainischen Staatspräsidenten Petro Poroschenko und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso vor. Worum geht’s? Berlin verlangt, Kiew und Brüssel müssten mit Moskau über Änderungen am EU-Assoziierungsabkommen verhandeln. Es gelte, einen Ausgleich zu finden. Damit erfüllt die Kanzlerin eine Forderung der russischen Regierung – und sie setzt sich durch: Das Abkommen wird am 16. September ratifiziert, tritt auf russischen Wunsch aber erst nach den Verhandlungen, frühestens 2016, in Kraft. Kalter Krieg?
Oder die Sanktionen. Man weiß: Die deutsche Wirtschaft ist mit der russischen weitaus enger verflochten als die US-amerikanische, Einbrüche im Russland-Geschäft sind für sie deshalb viel gefährlicher. Dennoch dringt die Bundeskanzlerin am 8. September auf eine Verschärfung der Strafmaßnahmen – mit Erfolg. Merkel zeigt transatlantische Härte, auch wenn’s weh tut, heißt es. Und in der Tat, es tut weh. Nur wem? Wenige Wochen später sieht sich der US-Konzern Exxon Mobil gezwungen, ein gemeinsam mit Rosneft begonnenes Erdölprojekt in der russischen Arktis auf Eis zu legen – mit großem Unmut, denn Exxon Mobil ist dringend auf der Suche nach neuen Fördermöglichkeiten, und das Polarmeerprojekt galt als eine strategische Option. Auch BP zähle mit seinem 20-Prozent-Anteil an Rosneft zu den großen Sanktionsverlierern, heißt es inzwischen. E.on und Wintershall – beide eng mit der russischen Erdgasindustrie verflochten – sind hingegen fein raus: Merkel hat durchgesetzt, dass die Strafmaßnahmen die Öl-, nicht aber die Gasbranche treffen. Die Kanzlerin – eine USA-hörige Hardlinerin?
Natürlich gibt es die transatlantischen Betonköpfe – vor allem in der Union und bei den Grünen. Sie würden am liebsten sofort dazu übergehen, das westliche Kriegsbündnis gegen Russland und China in Stellung zu bringen, um – noch ist der Westen stark – ein für allemal in der globalen Machtpolitik klar Schiff zu machen. Merkel stellt sie mit zuweilen scharfen Äußerungen auf der Bühne zufrieden; ihre konkrete Politik aber entspricht dem nicht unbedingt. Und natürlich gibt es diejenigen – vor allem in der SPD – , die auf eine Schaukelpolitik zwischen West und Ost setzen und deshalb, bestärkt durch beharrliches Drängen der Wirtschaft, Nachsicht in puncto Krim üben. Matthias Platzeck ist einer von ihnen, und er hat sich deshalb schweren Ärger mit Frank-Walter Steinmeier eingehandelt, der – mit Merkel einig – darauf besteht, dass man Russlands Übernahme der Krim eben nicht einfach ad acta legen dürfe.
Denn aus der Wirtschaftskooperation mit Russland so lange wie möglich Profit ziehen, ist die eine Sache. Von Einwänden des Kanzleramts gegen die Stuttgart-Reise des russischen Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew am Dienstag ist nichts bekannt. Eine andere Sache ist es aber, wenn Moskau staatliche Grenzen neu zieht und damit ein bisheriges Machtmonopol des Westens bricht, der immer noch selbst entscheiden will, welches Land zerschlagen wird. Russlands Erstarken hinzunehmen, würde die deutschen Herrschaftsansprüche relativieren. Deshalb kommt das aus Sicht der Bundesregierung nicht in Betracht. Und deshalb macht eben auch der Außenminister gegen Moskau Front, wenngleich er – mit Rücksicht auf seine Klientel – mahnt, man dürfe es nicht auf die Spitze treiben.
Dass das Lavieren zwischen Wirtschaftskooperation und politischem Machtkampf Widersprüche beinhaltet und zu Reibereien führt, liegt auf der Hand. Es sind allerdings weniger Differenzen zwischen Personen, sondern eher innere Widersprüche der deutschen Machtpolitik.
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