Was die Traditionsbewahrer ausblenden

Die Gegner der Kommerzialisierung pflegen teilweise reaktionäre Sichtweisen aufs Fan-Dasein. Ein Einwurf

  • Till Ermold
  • Lesedauer: 6 Min.
»Tradition« ist ein häufig gebrauchtes Wort der Kommerzkritiker. Doch der romantisch verklärte Blick in die Fußballvergangenheit dient oft nur zur Ausgrenzung anderer Fangruppen.

Die Zweitligasaison, die RB Leipzig absolviert, ist ein Anrennen gegen Vorurteile. Gleich beim ersten Auswärtsspiel 2014/2015 wurden Spieler und Fans in München darauf eingestimmt. »Noch schlimmer als eine dumme Idee sind die Menschen, die ihr blind folgen. Gegen Red Bull und seine Anhänger«, lautete ein Spruchband von 1860-Fans in der Allianz-Arena. Die Botschaft des Spruchbandes war unmissverständlich und wurde bis zur Winterpause dutzendfach wiederholt: Fans von RB Leipzig sind unmündige Subjekte, die blindlings den Brausemillionen folgen und damit gleichzeitig einen Verrat an Traditionsvereinen begehen.

Die 1860er neigen, wie die meisten Fußballfans, zur Vereinfachung. Denn es ist ziemlich kurz gedacht, eine große Zahl erwachsener Menschen, die am Niedergang des Leipziger Fußballs in der Nachwendezeit keinerlei Schuld tragen, pauschal zu unmündigen Konsumenten abzuwerten. Dass derart vorschnell urteilende »kritische« Fußballfans wie diese 60er als »ewiggestrig« verschrien werden, mag ihnen nicht gefallen. Bei aller berechtigten Kritik an den Auswüchsen der Kommerzialisierung des Fußballs agieren sie gegen Fans, die nicht in ihr Weltbild passen, mit Pauschalurteilen und verweisen auf die goldene Vergangenheit - Wesensmerkmale der ewiggestrigen Denkweise.

Ausgrenzung von Menschen

Anno 2015 kommt kaum ein Protest gegen den modernen Fußball ohne Verweis auf die Tradition der etablierten Vereine aus. Doch der Begriff Tradition ist ungenau. Und nirgendwo wird begründet, wozu denn eine lange Tradition heute gut sein soll. Im Gegenteil: Das Berufen auf Tradition und eine Art unverfälschten Fußball kann unangenehme Begleiterscheinungen mit sich bringen. Mancherorts führt die reaktionäre und romantische Verklärung der Vergangenheit zur Ausgrenzung von Menschen, die nicht ins enge Korsett der Vorstellungen vom Fandasein passen.

Mit der Kritik an der Kommerzialisierung des Fußballs geht immer wieder eine Kategorisierung von Fans einher - in die, die ihren Verein 90 Minuten im Stehplatzbereich unterstützen und jene, die auf den Sitzplätzen das Spiel leise verfolgen. Gern werden diese Besucher, für die der Besuch eines Fußballspiels auch durch einen Kino- oder Theaterbesuch ersetzbar ist, als »Stadiontouristen« verächtlich gemacht.

Dabei sind Sitzplatzfans und Stadiontouristen nicht zwangsläufig unterscheidbar. Nichts hindert den Stadiontouristen daran, mit einem Vereinsschal auf der Tribüne Platz zu nehmen. Und der »echte« Fan kann auch ohne Fanutensilien auftreten. Beide Gruppen können gegen die eigene Mannschaft pfeifen, beide können schon vor dem Abpfiff ihren Platz verlassen, weil das eigene Team hoffnungslos im Rückstand liegt.

Auch die Frage, wie viele Spiele ein Stadiontourist gesehen haben muss, bevor er sich endlich Fan nennen darf, ist noch nirgendwo beantwortet worden. Wie muss sich der richtige Fan verhalten? Die Antwort darauf dürfte ebenso schwierig sein wie die Bestimmung der Bedeutung des Begriffs »Tradition«.

Ein Katholik bei den Rangers

Einen Traditionsbruch erlebten die Fans der Glasgow Rangers 1989. Der schottische Fußballrekordmeister verpflichtete mit Maurice »Mo« Johnston zum ersten Mal bewusst einen Katholiken. Viele Fans waren empört. Der Verein galt seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Aushängeschild der Protestanten in Glasgow. Auf dem Höhepunkt des Nordirlandkonflikts erschien ein katholischer Rangers-Kicker undenkbar. Zwar hatte der Verein schon davor katholische Spieler in seinen Reihen, nur hatten die ihre Konfession nicht zu erkennen gegeben. Die Nichtverpflichtung katholischer Spieler galt als Selbstverständlichkeit. Ähnlich war es bei Beitar Jerusalem, einem der größten Fußballvereine Israels. Ein Teil der Fans opponierte 2013 lautstark gegen die Verpflichtung zweier muslimischer Spieler aus Tschetschenien, Zaur Sadayey und Dzhabrail Kadiyev. Als Sadayev im März 2013 im Ligaspiel gegen Maccabi Netanya ein Tor erzielte, verließen Hunderte Fans das heimische Teddy-Kollek-Stadion, in dem schon öfters diskriminierende Äußerungen gegen Spieler muslimischen Glaubens zu hören waren. Sadavey war schon vor seinem Tor bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen worden. Auch Beitar hatte ein vermeintliches ungeschriebenes Gesetz: Man nimmt keine Muslime auf, wobei die Begriffe »Araber« und »Muslime« oft austauschbar waren. Mittlerweile haben die Tschetschenen Beitar wieder verlassen, und der Verein ist wieder »araberfrei«, wie manche Fans frohlocken. Eine Gruppe fortschrittlicher Beitar-Anhänger hat sich vom Verein abgewandt und einen eigenen gegründet: Agudat Sport Nordia Jerusalem, der dieser Tradition der Ausgrenzung abgeschworen hat. Er spielt nun in der fünften Liga in einem eigenen Stadion.

Der FC Chelsea war schon bei Gründung 1905 ein Kunstprodukt

Natürlich sind diese Beispiele aus Israel und Schottland nicht repräsentativ für alle Traditionalisten, die die Fußballkultur in Gefahr sehen. Das Traditionsproblem trifft hierzulande vor allem Vereine wie RB Leipzig oder die TSG Hoffenheim haben. Oft wird hier von »Kunstprodukten« gesprochen. Doch worin die Künstlichkeit besteht, wird nicht verraten.

Ein Blick ins Mutterland des Fußballs hilft bei der Einordnung. So mancher englische Verein unterscheidet sich in seiner Gründungsgeschichte kaum von der der Red-Bull-Filiale in Leipzig. Der FC Chelsea hat seine Existenz einem wohlhabenden Geschäftsmann zu verdanken, der 1905 für das von ihm gekaufte Stadiongelände an der Stamford Bridge im Westen Londons keinen Verein fand. Niemand wollte dort seine Heimspiele austragen. Kurzerhand gründete Henry Mears den Chelsea Football Club. Im Fußball spielten kommerzielle Interessen von Beginn an eine wichtige Rolle, insbesondere in England, dem Geburtsland des Kapitalismus.

Wenn Fans ihren Klub übernehmen

In der Bundesliga soll die 50+1-Regel verhindern, dass ein einzelner Investor mehr als 50 Prozent der Vereinsanteile besitzt. Durch Ausnahmeregelungen ist sie allerdings bereits stark aufgeweicht. Nach der jüngsten Umgestaltung kann ein Investor nach 20 Jahren ununterbrochenen Engagements bei einem Verein nun auch mehr als 50 Prozent der Anteile übernehmen. Ob die 50+1-Regel in ihrer abgeschwächten Form überhaupt noch eine Zukunft hat, ist angesichts all der Ausnahmeregelungen fraglich. In England, wo Mehrheitsanteile an Klubs erlaubt sind, haben sich schon vor zehn Jahren die ersten Fan᠆initiativen gebildet, die ihre Vereine von den Mehrheitseignern zurückkaufen und damit praktisch in Fanhand geben wollen. Der »Independent Manchester United Supporters Trust« (IMST) ist das bekannteste Beispiel. Der Zusammenschluss besteht aus mehr als 200 000 Mitgliedern und versteht sich als nicht-profitorientierte Graswurzelbewegung von Fans. Der IMST ist bereit, die Anteile von den derzeitigen Eigentümern zu erwerben, wenn diese sich zum Verkauf entschließen sollten.

Das Beispiel einer geglückten Übernahme durch Fans findet sich beim FC Portsmouth. Der ehemalige Erstligist, der derzeit in der vierten englischen Liga spielt, wurde 2013 durch den »Pompey Supporters Trust« übernommen. Wechselnde Eigentümer, Insolvenzen und Steuerschulden in mehrstelliger Millionenhöhe hatten den Verein von der Südküste Englands an den Rande der Auflösung gebracht. Heute ist der FC Portsmouth schuldenfrei.

Das Beispiel Portsmouth zeigt, dass eine Fanbeteiligung nicht nur durch das Vereinsrecht möglich ist, sondern auch im klassischen Fußballgeschäft durchsetzbar ist, ganz ohne 50+1-Regel. Portsmouth könnte ein positives Beispiel sein für aktive Fan᠆szenen in Deutschland. Die Zukunft ist also keineswegs so düster, wie die Traditionalisten behaupten.

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