BND spionierte mindestens 71.500 DDR-Bürger aus

Einstiger DDR-Premier Hans Modrow zwischen Juli 1958 und März 2013 im Visier westdeutscher Agenten / Linksfraktionvize Korte fordert Entschuldigung von Bundesregierung

  • René Heilig
  • Lesedauer: 2 Min.

Der Bundesnachrichtendienst (BND) und seine Vorläuferorganisation Gehlen haben zwischen 1946 und April 1990 »zu Funktions- und Mandatsträgern des Staats- und Parteiapparates der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR zu ca. 26.000 Personen Informationen erhoben.« Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf einen Anfrage der Bundestagslinksfraktion hervor, die »nd« vorliegt.

Zudem wurden 18.500 Angehörige der NVA sowie 27.000 Personen, die »erkannte Mitarbeiter des MfS waren«, ausspioniert. Über entsprechende personenbezogene Vorgänge des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) kann die Regierung keine Auskunft geben, »da ein Großteil der Unterlagen« aufgrund gesetzlicher Bestimmungen vernichtet worden seien. Deshalb liegt auch beim Militärischen Abschirmdienst (MAD) nichts mehr vor.

Hans Modrow, der als DDR-Ministerpräsident in Moskau und mit Bundeskanzler Helmut Kohl Wege zur deutschen Einheit geebnet hat, ist vom BND seit 1958 und vom Verfassungsschutz seit 1965 beobachtet worden. Die BfV-Beobachtung »wurde zum 1. März 2013 eingestellt, da er weder Mitglied noch Funktionär eines offen extremistischen Zusammenschlusses der Partei Die Linke ist«. Angeblich hat man keine nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt, schließt jedoch nicht aus, dass Modrow durch nachrichtendienstliche Mittel gegen andere Beobachtungsobjekte betroffen sein oder durch Landesämter für Verfassungsschutz ausspioniert worden sein könnte.

Der BND hat gegen Modrow »sowohl offen als auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln«, das heißt auch »mit Hilfe menschlicher Quellen«, operiert. Während seiner Amtszeit als DDR-Ministerpräsident sei »eine sensitive Information« ausgewertet worden, die aus der Zeit kurz vor dem Ende der Honecker-Amtszeit stamme, »wonach in der DDR gegen Herrn Modrow der Vorwurf des Hochverrats erhoben worden sei«.

Der BND habe Informationen »grundsätzlich ab der Ebene der ZK-Abteilungen erhoben«. Den Auslandsgeheimdienst interessierte die Volkskammer, Staats- und Ministerrat, die Einzelministerien sowie sonstige zentrale Organe. Beobachtet wurden auch die Blockparteien. Im November 1989 stellte der BND seine operative Aufklärung zu den neuen politischen Parteien in der DDR ein. Im Januar 1990 folgte die Einstellung der technischen Erfassung und der DDR-Briefkontrolle. Die Regierung stellt fest: »Der BND hat die Aufklärung der DDR endgültig im April 1990 eingestellt.«

Die Darstellungen der Bundesregierung zeigten, wie wichtig und umfangreich die wissenschaftliche und die politische Aufarbeitung des Kalten Krieges auch von westlicher Seite sind, betonte Jan Korte, Vizechef der Linksfraktion. Er nimmt das Unterstützungsangebot der Regierung zur Kenntnis und meint: »25 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es zunächst einmal an der Zeit, sich bei Hans Modrow zu entschuldigen.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -