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Alles so nah beieinander ...

Gedanken beim Gang durch Oswiecim und die Gedenkstätte am Ort millionenfachen Mordes

  • Frank Schumann
  • Lesedauer: 5 Min.

Mitten auf dem Markt, eingelassen ins Pflaster, markiert ein rostbraunes Metallband die Grundrisse des Hochbunkers, der bis vor wenigen Jahren dort stand. In den 1980er Jahren wurde das offenkundig unsprengbare Bauwerk von einem polnischen Geschäftsmann erworben. In Erwartung einer hohen Rendite - wenn denn eines Tages die Altstadt rekonstruiert würde und die Stadt den Klotz zurückkaufen müsste. Ob sich die Spekulation erfüllte, ist nicht bekannt. Das Trumm ist weg, die Fassaden glänzen, das Geviert wird gesäumt von Bänken. Diese zieren Metalltafeln, die an wichtige Ereignisse aus der über 800-jährigen Geschichte von Oświęcim erinnern. Natürlich ist auch der 27. Januar 1945 darunter.

Aber nicht jeder möchte an jenen Tag erinnert werden, wie es scheint. Unweit vom Markt, schräg gegenüber einem Zweigeschosser, in dem heute Anwälte sitzen und seinerzeit die Gestapo und der SD saßen, reckte sich bis vor wenigen Jahren ein Obelisk mit Sowjetstern. An seiner Stelle quetschen jetzt zwei Betonplatten einen Bronzeadler, und in pathetisch-patriotischen Worten rühmt man Polens tapfere Krieger, die sich einst fremden Mächten widersetzten.

Der Sowjetstern krönte auch ein Denkmal im Stadtteil Zasole. Dort wurden 700 bei der Befreiung des Lagers aufgefundene Leichname und gefallene Rotarmisten in einem Massengrab bestattet, demonstrativ mitten im Ort, damit zeigend: Es sind unsere Toten. »Bratskaja mogila«, ein Grab von Brüdern, heißt es auf der fünfsprachigen Platte in kyrillischen Lettern. Der Stern fehlt. Doch immerhin: Hier sind die Namen der 231 Sowjetsoldaten zu lesen, die bei der Befreiung der Stadt und des Lagers im Januar 1945 ihr Leben gaben. Die gepflegte Grabstätte befindet sich inmitten anderer auf dem Städtischen Friedhof am Rande der Altstadt, auf dem an die 1939 gefallenen polnischen Verteidiger von Oświęcim ebenso erinnert wird wie an die Söhne des Ortes, die in einer Armee der Antihitlerkoalition kämpften. Zu den vielen auf dem katholischen Gottesacker gewürdigten Toten gehören auch die Angehörigen des 57. Infanterie- und 1. Ulanen-Regiments, die 1866 im Preußisch-Österreichischen Krieg in Auschwitz verröchelten ... Ein Geschichtsbuch.

Steine dieser Art gibt es viele, die jüngste Tafel ist von 2012 und ist gleich am Friedhofseingang zu finden: Die Inschrift würdigt die Polen, welche Opfer ukrainischer Nationalisten wurden, also jener faschistischen Banditen um Stepan Bandera, die auch in Ostpolen ihr verbrecherisches Unwesen trieben und in der heutigen Ukraine als Vorkämpfer für Demokratie und Europa offiziell gefeiert und verehrt werden. Wie es also ausschaut, leben auch in Oświęcim Menschen, die ein sehr feines Gespür für die Vergangenheit haben und dieses unmissverständlich artikulieren.

Beim Gang durch die heute weit über 40 000 Menschen zählende Stadt - fast viermal so viele wie vor dem Krieg - trifft man fortgesetzt auf Zeugnisse aus jener unsäglichen Zeit. Im Osten, in Monowice, schirmt eine stacheldrahtbewehrte Mauer ein Gewerbegebiet: Der Zaun schützte einst das Firmengelände der I.G. Farben, die in Monowitz 900 Millionen Reichsmark investierte, um mit Hilfe der Arbeitssklaven ins Kunststoffzeitalter zu gelangen. Vom Auschwitz III genannten Lager steht nur noch eine unbeachtete Barackenruine auf einem Acker, der Rest ist überbaut mit Einfamilienhäusern jüngeren Datums. Da und dort ragt noch ein Beton-Ei aus dem Boden: Das waren die Einmann-Bunker für SS-Wachleute, in die sie sich flüchteten, sofern es Luftangriffe gab.

In der Nähe des Stammlagers - Auschwitz I damals und Museum heute - entdeckt man noch mehr Zeugnisse aus jener Zeit. Sie verrotten zumeist wie die Baracken, die in Gärten oder auf Brachen stehen, und in denen einst Häftlinge zur Arbeit getrieben wurden. Die sogenannten Krupp-Hallen, wo nach ihrer Flucht aus der Ukraine die Union-Werke Zünder für Granaten fertigen ließen, daneben die Reste der Deutschen Ausrüstungswerke (DAW), eines SS-eigenen Rüstungsbetriebes: ungeschützte Ruinen, von Gesträuch und Moos überwuchert, stumme Belege der Vernichtung durch Arbeit.

Von den Werksruinen sind es anderthalb Kilometer nach Birkenau, genannt Auschwitz II. Dort ließ Rüstungsminister Speer ein Arbeitskräftereservoir bis 200 000 Mann für die deutsche Kriegswirtschaft anlegen. Auf der Rampe wurden die Deportierten aus ganz Europa selektiert: Die Arbeitsfähigen kamen ins Lager, die anderen, die »Unnützen«, ins Gas. Hier war der Kapitalismus am effektivsten, indem er die Ware Mensch restlos verwertete - erst die Arbeitskraft, dann die Haare, Zähne, Prothesen, Kleidung. Nur für die Asche fand man keine Verwendung: Sie wurde verstreut oder in Gruben versenkt, die sich in dieser sumpfigen Gegend rasch mit Wasser füllten. Anderthalb Millionen Menschen nahmen Nazis Habe und Leben, mehrheitlich waren es Juden, Sinti und Roma. Andere Ethnien wären hinzugekommen, wenn nicht der deutsche Terroristenstaat von einer antifaschistischen Staatenkoalition zerschlagen worden wäre.

Neben dem Museum und dem großen Parkplatz verkaufte Agnieszka Mateja jahrzehntelang Bücher an Auschwitz-Besucher, im letzten Jahr kamen an die anderthalb Millionen. Den Kiosk führte sie Jahrzehnte. Das Museumspersonal wechselte, sie blieb und war darum für viele ehemalige Auschwitz-Häftlinge Vertraute. Ihr Fotoalbum spricht Bände. Die Zahl der »Auschwitzer« nahm stetig ab, 70 Jahre nach der Befreiung des Lagers leben nur noch wenige. Am 31. Dezember schloss Agnieszka den Laden, weil die ab Januar geforderte Miete exorbitant war, und zog mit ihrem Laden in die Innenstadt. Dorthin verirren sich kaum Touristen. Die Perspektive scheint absehbar. Auschwitz-Bücher und andere Devotionalien werden künftig im schicken Museumsshop angeboten. Als Weltkulturerbe der UNESCO gibt es Verpflichtungen und Erwartungen.

Der Vorgang hat etwas Metaphorisches. Ein Wechsel deutet sich an. Wo es keine lebenden Zeugen mehr gibt und Erinnerung professionell betrieben wird, droht sich die Seele zu verlieren. Es ist darum gut, dass es Einrichtungen wie die Internationale Jugendbegegnungsstätte gibt, die - mit Unterstützung deutscher Sponsoren, darunter auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung - mit vielfältigen Bildungsangeboten die kommerzielle Erinnerungsindustrie subtil unterläuft. Das moderne Haus mit Herberge liegt übrigens an jener Straße, die zum einstigen Stammlager führt, vorbei an der Dienstvilla von Lagerkommandant Rudolf Höß, die heute in Privatbesitz ist. In zweihundert Meter Entfernung steht der Galgen, an welchem jener 1947 gehenkt wurde. - Alles so nah beieinander ...

Im Berliner Verlag Edition Ost erscheint dieser Tage ein Bild-Text-Band von Susanne Willems sowie Frank und Fritz Schumann.

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